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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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blieb aber sitzen im entsetzlichen Bunt meiner Legosteine.
    Fixer hatten in dem Haus gewohnt, bevor mein Vater es kaufte. Einer war an einer Überdosis gestorben. Deshalb ging der Mann, der es geerbt hatte und verkaufte, mit dem Preis runter. So weit, dass meine Mutter nicht mehr Nein sagen konnte zu der Bruchbude, in der die Türen und die Fußböden schwarz und rot gestrichen waren. Meine Mutter weinte, als sie den Kaufvertrag unterschrieben. Mein Vater dachte, vor Freude. Meine Mutter dachte an mich.
    Ich habe überlebt, dachte ich: Wo kann er nur sein?
    Es wurde Abend, die Dämmerung kam schnell und ging schnell, und es war Nacht. Ich lehnte an meinem Wagen und wartete und wusste, dass es vergebens war. Dann ging ein Licht an im Flur im oberen Stockwerk. Ich lief zur Tür, wo ich den Klingelknopf mit dem Daumen hin und her bewegte, bis er sich aus seiner Verkantung löste. Durch den Reliefschliff des Sicherheitsglases sah ich schwach den Schein des Lichts und meinte, eine Bewegung, einen Schemen erkannt zu haben. Aber niemand öffnete. Ich kletterte über den Zaun und ging auf die Rückseite des Hauses. Zeitschaltuhr, dachte ich, als ich durch das Küchenfenster auf die nackte Glühbirne im oberen Stock starrte. Die Küchentür war ausgehängt, die Teppichfliesen waren von den Stufen gerissen. Dann erlosch das Licht wieder. Nichts hatte sich geregt im Haus. Der Garten war untergegangen, in Wellen lag das lange Gras übereinander und faulte, die Rosenstöcke trocken, eine Wüste im Meer. Ich klingelte bei den Fischers im Nachbarhaus, bei denen ich die Nachmittage verbracht hatte, bis ich alt genug gewesen war, nach der Schule selbst für mich zu sorgen, aber die Fischers wohnten hier nicht mehr. Der Mann, der mir öffnete, konnte nichts sagen über meinen Vater, eine Frau komme hin und wieder vorbei und sehe nach dem Rechten, sagte er: Die kennen wir aber nicht.
    Mein Vater sagt: In Nachbars Garten blühen die Blumen immer schöner. Wir sehen in den Nachrichten, dass in Berlin die Mauer gefallen ist, weinende Menschen, die sich an den Grenzübergängen in den Armen liegen. In unserer Straße werden Feuerwerkskörper gezündet, ich laufe zum Fenster, sehe den letzten grünen Stern im Himmel verbrennen und sage: Das ist super!
    Dass man die drüben eingesperrt hat, sagt mein Vater, weil es Kommunisten sind, erklärt er mir: jetzt behaupten die, dass sie keine Kommunisten mehr sind, und dürfen raus – ich soll mich nicht zu früh freuen.
    Und schon bald sitzt eine alte Frau bei uns in der Küche und sagt, sie ist meine Oma. Sie weint und betrachtet mich und schüttelt immer wieder den Kopf. Sie schmatzt beim Sprechen, als hätte sie einen trockenen Mund. Die fleckige Kaffeetasse meines Vaters steht auf dem Tisch, sonst nichts. Er schweigt und tippt mit der Schuhsohle im Takt auf den Boden. Mein erster Gedanke ist: Dann muss sie mir was zum Weißen Sonntag schenken nächstes Jahr, wenn sie meine Oma ist, und zu Weihnachten und meinem Geburtstag auch. Und wenn es eine Oma gibt, gibt es vielleicht auch einen Onkel und eine Tante, die mir auch alle Geschenke machen müssen. Aber weil mein Vater gesagt hat, die von drüben kommen nur, um sich was von uns zu holen, denke ich an meine Schokolade im Küchenschrank und starre auf unsere Süßigkeitenschublade, die nicht ganz geschlossen ist. Kommen Sie, sagt mein Vater und führt die Frau am Ellbogen durch den Flur und zum Wagen.
    Während sie Erde aus einem Einmachglas auf das Grab meiner Mutter schüttet und mit den Fingern verteilt, frage ich meinen Vater, ob sie von meiner Schokolade genommen hat. Er lächelt und streicht mir über den Kopf.
    Dass er mir nie erzählt hat von denen aus dem Osten, sagt er mir Jahre später, weil meine Mutter ja nicht nur wegen der DDR , sondern hauptsächlich wegen ihrer Familie im Westen geblieben war, ihrer Mutter, ihres Vaters und des Rests des Gesindels. Dass er einen Anwalt eingeschaltet hatte gegen die, weil die mich ihm wegnehmen wollten. Die dachten, sagt mein Vater und flüstert: deine Mutter hätte eine Lebensversicherung gehabt, von der ihnen was zustand.
    Ich beobachtete das Spiel des Lichts im Flur eine Stunde lang. Alle zehn Minuten ging die Lampe für fünf Minuten an. Ich glaubte nicht, dass sich mein Vater so was ausgedacht hatte. Er ließ nie ein Licht brennen in einem Raum, in dem keiner war. Dass sich so was nur eine Frau einfallen lassen könnte, dachte ich, und kurz spürte ich eine unfassbare Hoffnung, dass meine
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