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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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Mutter lebte.
    Dann stieg ich in meinen Wagen und fuhr davon mit durchdrehenden Reifen, das Fünf-Minuten-Licht leuchtete in meinem Rückspiegel auf, als ich die Ausfallstraße nahm.
    Die Nacht war lang und kalt auf der Rückbank meines Wagens, den ich geparkt hatte vor der Ballspielhalle an der Einfahrt zum Industriepark. Ich hatte die Stimmen einer Gruppe Jugendlicher gehört und mir die Decke über den Kopf gezogen. Durch den groben Stoff starrte ich den Lichtstern der Straßenlaterne gegenüber an. Ich schlief nicht, wartete auf das Ende der Nacht, das nicht kam – das Leben begann irgendwann, es wurde hell, die Sonne ging auf.
    Vor dem Grab meiner Mutter stehend, betrachtete ich die verwelkten Rosen im Brackwasser der Steckvase neben der bronzenen Laterne mit Kruzifix – in der das ewige Licht erloschen war – und die drei kleinen, immergrünen Büsche, die ungestutzt wucherten. Die kahlen Äste der Ahornbäume bewegten sich im Wind, die frischen Knospen und Triebe schimmerten grünlich, brach die Sonne durch die Wolken. Ich bekreuzigte mich und faltete die Hände vor dem Bauch.
    Für wie lange das Grab noch gepachtet sei, fragte ich mich und versuchte mir, die Frau vorzustellen, die ich nur von Fotografien kannte, wie sie spricht, geht, lacht und isst. Aber so gut, wie ich es als Kind konnte, kam ich hierher mit meinem Vater, konnte ich es nicht mehr. Ich sehe sie leben dort unten in der Erde, und es ist mehr als ein Wunsch. Ich nehme die Hand meines Vaters und drücke, so fest ich kann. Er spricht nicht, und ich spüre, dass er nicht weiß, warum ich so zudrücken muss.
    Sprich jetzt dein Gebet, sagt er: wir gehen.
    Ich spreche mein Gebet, meine Mutter bleibt lebendig, und ich kann den Gedanken nicht fassen, dass sie hier zurückbleiben muss.
    Ich ging den Weg zurück zum Parkplatz, wie ich ihn immer gegangen war: neben meinem Vater und doch einen halben Schritt hinter ihm, als müsse er mich führen oder der Erste sein, der durch das Friedhofstor trat. Die stummen Absprachen, die wir nie getroffen hatten, die ich auch dann einhielt, waren wir nicht zusammen.
    Ich glaube an die allein selig machende römisch-katholische Kirche. Mein Vater hat am Tag zuvor kalten Braten gegessen, der nicht mehr gut war, und wandelt vom Klo zum Bett und wieder zurück. Es ist Sonntag um Viertel nach neun, und ich laufe allein an der Hauptstraße entlang zur Fußgängerampel, ich sehe niemanden, der aussieht, als würde er zur Kirche wollen. Ich werde die Angst nicht los, dass ich zu früh bin, zu spät bin, dass gar nicht Sonntag ist. Mein Vater weiß nicht, dass ich weg bin, er hat grüne Galle in die Kloschüssel gewürgt, als ich mich umgezogen habe und ihn fragen wollte, ob ich gehen dürfe. Ich laufe schneller, renne über die Straße trotz der roten Ampel, weil ich ahne, dass Gott mir das verzeihen wird, komme ich pünktlich zur Messe. Ich freue mich beim Gedanken, dass Jesus wegen mir lächelt, vielleicht meine Mutter lobt für ihren Sohn. Als ich mich umdrehe, erkenne ich meinen Vater an der Kreuzung, wo die Straße zu uns abbiegt, er rennt, hebt den Arm und schreit irgendwas.
    Er ist geheilt, denke ich.
    Ich glaub, dir brennt der Kittel, flüstert er.
    Ihm steht der Schweiß im Gesicht, und ich spüre, wie seine Hand zittert, als er sie mir in den Nacken legt. Seine Haut ist gelb und grobporig und glänzt wie Grießbrei mit zerlassener Butter, die Augen rot, und er atmet schwer. Sein Atem stinkt bitter, er krümmt sich unter einem Krampf und würgt, aber kann sich nicht erbrechen.
    Ich will zur Messe, sage ich.
    Nix da, flüstert er: ohne mich gehst du nirgends hin.
    Er verstärkt seinen Griff und führt mich mit der Hand in meinem Nacken. An der Fußgängerampel warten wir, bis es Grün wird, obwohl kein Verkehr ist. Du sollst Vater und Mutter ehren, weiß ich.
    Von einer Telefonzelle rief ich bei der Auskunft an, die gab mir nur die alten Daten meines Vaters durch. Ich wusste, ich sollte zur Polizei gehen und dort nach ihm fragen. Dann zog ich den Zettel mit der Nummer von dem »Zu verkaufen«-Schild aus der Tasche. Theresa meldete sich nach dem zweiten Klingeln, sie sagte: Sie klingen wie Ihr Vater.
    Ich sagte: Wo ist er?
    Sie schwieg und sagte: Ich habe eine Vermisstenanzeige gestellt.
    Ich schwieg, sie sagte: Seine Rente wird von der Bank einbehalten – er geht nicht an sein Konto.
    Er ist nicht tot, sagte ich.
    Ich glaub schon, sagte sie.
    Ich betrachtete die Schmierereien in der Telefonzelle, Hakenkreuze,
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