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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden
Autoren: Moritz Uslar
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1 Berliner Runde
    Ich saß an dem Ort, an dem die Leute immer sitzen, wenn sie etwas sagen wollen: Lokal. Bier. Wasser, mit und ohne. Ein Dienstagabend, gegen 22 Uhr. Das Essen schon hinter uns. Ganz viele tolle Leute, nicht zu lustig, nicht zu laut, nicht zu schlampig, nicht zu fein angezogen. Mein bester Kumpel, neben ihm eine Blonde, und die anderen, die zu so einer Runde gehörten. Zwischen den Tischen liefen die Kellner, die wir mit Vornamen kannten, auf und ab und servierten Steaks und Champagner.
    Ich sagte: »Ihr Süßen. Ich erzähle euch jetzt mal ganz was anderes.«
     
    Ich sagte: »Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war – nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich da hin, wo der totale Blödsinn auferzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart. Nach etwa drei Monaten, denke ich, müsste ich genug zusammenhaben.«
    Schweigen. Ratlose Gesichter.
    Immerhin, da grinste auch einer in der Runde.
    Und sofort stellten sich die Angst und die Scham bei mir ein. Normale Sache. Angst deshalb, weil es heraus war, weil ich angegeben hatte, und weil ich mich nun – ganz in echt – bald auf die Reise machen musste. Scham deshalb, weil man in Lokalen, das weiß doch eigentlich auch jeder, nicht so laut so großartige Dinge sagen soll.
     
    Ich sagte: »Ich will dahin, wo Leute in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und an einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen!«
    Und in die Berliner Runde, in die erstaunten Gesichter meiner Freunde hinein, begann ich nun, die Orte aufzuzählen, an denen mein zukünftiger Einsatz im Osten stattfinden könnte:
    Buckow.
    Brandow.
    Sandow.
    Sumpfow.
    Stumpfow.
    Ostow.
    Friedenow.
    Birkenkieferzeckengespensterginsterow.
    Plattenbautow.
    Trostlosow.
    Lehmkuhlenhüttenbetonkopfsteinhausen.
    Zappendüsterow.
     
    Noch, erklärte ich, wüsste ich nicht, wo exakt im Wilden Osten der Ort lag, an dem meine Geschichte spielen würde. Das Übereinanderlegen der entsprechenden Karten (Armut, Arbeitslosigkeit, Abwanderung) sei sicher zielführend; aber am Ende sei man dann an einem Ort, an dem das bisschen Elend von drei Fernsehkameras abgefilmt werde und man sich mit den Meinungsforschern gegenseitig auf den Füßen herumstand. Es nützte nichts, ich würde losfahren und selber sehen müssen: Beim Anblick des richtigen Ortes würde ich erkennen, dass ich am richtigen Ort angekommen war, vorher nicht, anders war das nicht zu machen.
    Die Kleinstadt, erklärte ich, also nicht die Stadt und nicht das Dorf, müsste es bitte sein.
    Die Kleinstadt.
    Ah.
    Warum?
    Einfach: Die Stadt würde zu groß, das Dorf zu klein sein für die angestrebte Geschichte. Als Kleinstadt wird inDeutschland die Örtlichkeit mit 5000 bis 20 000 Einwohnern bezeichnet. In der Kleinstadt, so stellte ich mir das vor, träfe man Leute zufällig wieder, worauf es ganz maßgeblich ankam. Erstens sich sehen, zweitens sich wiedersehen, beim dritten Treffen finge der Mensch dann an, sich irgendwie zu verhalten, irgendein komisches Ding als Handlung aufzuführen, auf das der andere dann mit seinem Ding antworten könne: Zwischenmenschliches. Im Dorf dagegen, erklärte ich, war die Gefahr groß, dass dort außer Sterben einfach gar nichts war.
     
    Und die Kellner füllten die Champagnergläser, und ich sprach weiter von meiner Sache, als wäre sie ein uraltes Projekt, ein Traum, eine Herzensangelegenheit.
     
    Ich war der Reporter, ich war der Reporterdarsteller, der bei einem Nachrichten-Magazin einst sein Handwerk gelernt hatte.
    Ich war der Mann mit Hut.
    Ich fragte mich die ganze Zeit: Wo ist mein Hut?
     
    Die nächste Frage lautete: Wie sollte der Reporter die tausendundeins Dinge, die andauernd um ihn herum geschahen, und den endlosen Strom der um ihn herum gesprochenen Worte – wie sollte der Reporter sich anstellen beim Aufzeichnen dieser Gegenwart, die immer wieder aufs Neue gerade eben wieder ablief, ohne dass es zu Irritationen kam, die mühselige Erklärungen notwendig machten, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, und im äußersten Fall Handgreiflichkeiten,
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