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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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Präferenz nicht unnötig in einen anderen Kampf verschleppte. Es war nun unumgänglich, mein inneres Gefühl auszudrücken, wobei ich so gut wie möglich meine Hemmungen überwand.
    »Was für dich richtig ist, ist für dich richtig … Du mußt diesen Weg ausprobieren, unbedingt …«
    Er schaute … Auch dieses Mal schien er sich mit Blicken bedanken zu wollen … Als wenn … Als wenn wir uns erst bei diesem Abschied hätten wirklich berühren können … Eine Frage wollte ich noch stellen.
    »Wann fährst du?«
    Er neigte den Kopf, wie es Menschen tun, die eine traurige Nachricht mitteilen, doch zugleich antwortete er entschlossen.
    »In vier Tagen … Über London nach Montreal … Es wird eine lange Reise werden …«
    Ich nickte, wieder lächelnd. Er ging noch weiter weg als ich damals. Ich wußte, er würde nicht wollen, daß ich zum Flughafen kam. Ich würde wahrscheinlich auch nicht wollen. In diesen vier Tagen würden wir eben miteinander reden, was es zu reden gab, einander das zeigen, was wir zeigen konnten, und erzählen, was wir uns erzählen konnten … In diesem Augenblick fühlte ich mich gedrängt auszudrücken, was ich wohl gerade beim Abschied sagen konnte, was ich sagen mußte …
    »Kehr bloß nicht um! … Gib bloß nicht auf! … Oder bleib wenigstens so lange dort, bis du glaubst, deinen Traum verwirklicht zu haben! … Wenn du willst, daß ich komme, dann komme ich. Sobald du es willst, komme ich …«
    Ich war nicht überzeugt, daß er auf dem richtigen Weg war. Meiner Ansicht nach sollte er eigentlich hierbleiben. Doch … Doch ich war sein Vater. Ich mußte ihm das Gefühl geben, daß einer, und zwar einer, den er liebte, an seiner Seite war. Ich konnte jenen Mord nicht auch begehen. Es schmerzte mich, als ich diese Worte sagte, doch ich mußte diesen Schritt auf uns beide hin tun. Nachdem er meine Worte gehört hatte, erhob er sich. Auch ich stand auf. Wir umarmten einander. Ich wollte die Freude dieser Momente auskosten. Und ich kostete sie aus … Obwohl mir bewußt war, daß ich mich so leicht nicht von den Auswirkungen dieses Erdbebens erholen würde … Beide hatten wir feuchte Augen. Ich wußte nicht, worüber er weinte, und wollte es auch nicht wissen. Es reichte mir, daß ich wußte, worüber ich selbst weinte. Diese Tränen waren nicht nur Freudentränen …
    In den vier Tagen aber, die auf diesen Abend folgten, versuchten wir, soweit wie möglich, unser Zusammensein zu erleben, besser gesagt, wir versuchten, es zu erschaffen. Mein Sohn, meine Tochter, meine Frau und ich … Vielleicht waren wir zum ersten Mal eine Familie geworden. Eine echte Familie … Neli, meine liebe Tochter, die mir nie Probleme machte, war sehr traurig, daß sie sich von ihrem älteren Bruder trennen sollte. Çela war immer noch enttäuscht, doch ich wußte, ihre Enttäuschung richtete sich nicht gegen ihren Sohn. Vielleicht gelang es uns ja mit der Zeit, uns besser mit unserer Realität auseinanderzusetzen. In den Stunden, in denen ich mit meinem Sohn allein war, erzählte ich ihm, was es zu erzählen gab. Ein jeder wollte ja irgendwie in einem anderen Menschen verewigt bleiben. Ausführlich erzählte ich auch von der ›Schauspieltruppe‹. Wir lachten. Wir wurden gerührt, traurig … Nachdem er meine Erzählung angehört hatte, sagte er, ich müsse sie unbedingt finden, wiederfinden. Ich dachte ebenso. Ich würde alles daransetzen. Um zu sehen, was ich alles verloren oder noch nicht verloren hatte … Um mich selbst besser zu sehen und zu verstehen …
    Dann brach der Tag des Abschieds an … Jener Tag, jene Augenblicke waren gar nicht dermaßen erschütternd … Die notwendige Erschütterung hatten wir sowieso schon zur Genüge erlebt … Die Phase des Leugnens und Widersprechens hatten wir schon lange hinter uns … Der Tod war als nicht zu ignorierende, nicht zu unterschätzende Tatsache in unserem Leben, in unserem Inneren, doch der Kampf war beendet, zumindest an einer Front, er hatte große Schäden zurückgelassen, aber er war zu Ende, das wußten wir …
     
    Mein Sohn ist seit ungefähr einem Jahr dort. Er ist noch nicht zurückgekehrt. Es sieht auch nicht so aus, als käme er. Ab und zu schickt er eine Mail. Er schreibt, er wolle dort mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften weitermachen. Vielleicht macht er weiter, vielleicht nicht … Er erwähnt auch manchmal seinen Geliebten und sagt, er sei glücklich, er lebe nach seinen Vorstellungen … Ich sehe, der Kampf geht weiter. Es
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