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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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Der Gang in die Hölle
    Jahrelang verfolgte mich ein Traum in seiner ganzen Unerbittlichkeit … Doch es dauerte sehr lange, ehe ich soweit war, zu erkennen, was der Traum mir sagen wollte. Auch jetzt bin ich mir noch nicht sicher, inwiefern mir das gelungen ist. Inzwischen hallen nur noch die Stimmen und das Gelächter in mir nach. Der unvergeßliche Bösewicht aus Cowboyfilmen, Lee Van Cleef, in seiner schwarzen Kleidung mit dem langen Jackett schaute mich mit seinen Adleraugen und einem unheilverkündenden Grinsen an, das eine seiner Bosheiten ankündigte; mit seiner langläufigen Pistole schoß er gerade meinem Vater, der ein wenig von mir entfernt stand, in die Stirn. Noch immer habe ich vor Augen, wie mein Vater schmerzhaft getroffen zusammenbricht und sich mitten auf seiner Stirn ein rotes Loch auftut. Wo befanden wir uns? … Warum waren wir dorthin gekommen? … Was wurde von mir verlangt oder erwartet? … Der Ort glich einem der Strände meiner Kindheit. Doch gleichzeitig war es totenstill wie in einem Horrorfilm. Womöglich war es ganz früh am Morgen. Die passende Zeit für eine Hinrichtung. Auf dem unendlich ausgedehnten Strand waren nur vereinzelt Menschen. Sie saßen weit voneinander entfernt. Ich erinnere mich, daß mich ein Mann quasi mißbilligend ansah, mich verächtlich, ja sogar lächerlich zu finden schien. Und auch an eine ältere Dame mit vom Sonnenbrand ziemlich gespannter Haut erinnere ich mich. Sie ähnelte einer Freundin meiner Großmutter mütterlicherseits, mit der sie sich an bestimmten Wochentagen zum Conquen-Spielen traf. Sie stand auf und sagte mit Blick auf meinen am Boden liegenden Vater bestürzt: »On l'a tué le pauvre.« (Man hat den Armen getötet.) Die Frau achtete nicht auf mich. Es war auch nicht klar, an wen in jener unendlichen Leere sie diese Worte richtete. Etwas weiter abseits saßen noch drei Männer und unterhielten sich lachend. Als hätten sie von dem Vorfall weder etwas gehört noch gesehen. Ich jedoch stand daneben. Ich schaute ängstlich, aber mit dem Versuch eines Lächelns den immer noch grinsenden Lee Van Cleef an, der den Rauch von der Mündung seiner Pistole wegpustete. Das war alles … Danach wachte ich auf …
    Den Traum habe ich vor zehn Jahren geträumt. Damals war mein Vater schon lange gestorben. Anfangs konnte ich keinen Sinn darin erkennen, warum ich ihn zum ersten Mal nach all den Jahren in einer solchen Situation sah. Dann habe ich verstanden. Eigentlich war ich es selbst, der den Mord verübte. Aber weil ich das selbst natürlich nicht fertigbrachte, habe ich diesen Menschen, dessen Anwesenheit ich noch in späteren Jahren bei jedem Schritt, den ich tat oder unterließ, spürte, durch den ärgsten Bösewicht töten lassen, den ich mir vorstellen konnte. Dieser Bösewicht war einer von den Filmhelden, die uns in weit zurückliegenden Zeiten in den gemeinsam angeschauten Filmen am meisten beeindruckt hatten. Wieviel Zeit lag dazwischen, wie viele Menschen … Wie viele Gefühle, wie viele Worte, wie viele Bilder … Ich hatte Angst, wieder einmal Angst. Ich fürchtete mich aufzufallen, ›allzusehr‹ wahrgenommen zu werden … Ich kam ja aus einer Geschichte voll tiefgehender Bedrohungen, die mich diese Angst spüren ließen und mein Schweigen erwarteten und nährten … Diese Geschichte, die mich ohne mein Zutun umfing, war gleichzeitig die Geschichte meiner Einsamkeit, die ich zwangsläufig durch meine eigenen Schritte gestaltet hatte. Es war die Geschichte, die mich an meine ganz privaten Dunkelheiten erinnerte, an meine Sexualität, an mein Gesicht, das ich jahrelang nicht im Spiegel sehen mochte, und es war außerdem die Geschichte meiner Sprachen, durch die ich mich selbst kennengelernt hatte, die Geschichte meines Landes und meiner alten Stadt … Warum waren jene weiter entfernten Männer wohl dem Mord gegenüber derart unbeteiligt geblieben? … Wieso hatte die Dame auf diese ›fremdartige‹ Weise reagiert? … Und was war mit dem Mann, der mich geradezu verurteilend angeblickt hatte? … Wer war dieser Mann? … War er eine der Gestalten aus meiner Hölle, die ich mir durch meine Isolierung geschaffen hatte, eine der Personen, die ich mir in verschiedenen Abschnitten meines Lebens in unterschiedlichem Gewand vorgestellt hatte, die mich mit ihren Drohungen stets irgendwie zurückhielten und die ich unausweichlich wie Feinde wahrnahm, erlebte? … War ich vielleicht selbst dieser Mann? … Diese Fragen hätten mich wiederum zu ganz
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