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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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und letzten Konfrontation, sagte, brachte uns zudem an einen Punkt weit über diese Blindheit, dieses Versäumnis hinaus. Die Worte waren ein Spiegel. Ein Spiegel, der darauf wartete, daß wir das berührten, was hinter dem Sichtbaren lag und sich zeigen wollte …
    Der Weg begann mit jenem für uns unerwarteten Gespräch. Nedi hatte alle Vorbereitungen getroffen, um nach Kanada auszuwandern, ohne uns beide davon in Kenntnis zu setzen. Er hatte sich so wie ich für das Studium der Wirtschaftswissenschaften entschieden. Damals war er im zweiten Studienjahr. Entweder würde er dort sein Studium fortsetzen oder einen anderen Weg einschlagen, den er jetzt noch nicht kannte. Er würde sich dort entscheiden. Was er wußte, war, daß er in dieser Stadt und in diesem Land für sich keine Zukunft sah. Ich schwieg, zuerst schwieg ich und versuchte, ihn zu verstehen. Doch Çela reagierte sofort, sie versuchte, ihn aufzuhalten, wobei sie ihren Ärger nicht verbarg. Nedi jedoch wirkte sehr entschlossen. Äußerst entschlossen … So sehr, daß er über die Reaktion seiner Mutter lächelte, ja sie verächtlich abtat … Was auch immer wir sagten, er würde gehen. Außerdem waren es bis zu seiner Abreise nur noch wenige Tage … Ich konnte ihn in meiner Verwirrung lediglich fragen, warum er sich so entschieden habe. Die Antwort, die ich bekam, klingt mir immer noch in den Ohren …
    »All die Jahre habe ich etwas in eurem Leben gesehen, das ich nicht leben wollte … Etwas, an dem ich mich nicht mehr beteiligen wollte. Das ist so, seit ich mich selbst kenne. Wenn ihr fragt, was das ist, kann ich es nicht genau sagen. Doch das, was ich gesehen habe, gefällt mir überhaupt nicht …«
    Was konnte ich dazu äußern? Vielleicht sprach er aus, was ich seit Jahren nicht hatte sagen können, wozu mir der Mut gefehlt hatte … Auch das, was er dann mit einem traurigen Lächeln zu mir sagte, ist mir im Gedächtnis. Er schaute mich an, als täte ich ihm leid …
    »Vor allem, was du getan hast, will ich auf keinen Fall tun. Im Laufe der Jahre bist du zum Sklaven eines Lebens geworden, dessen Glanz dich fasziniert. Noch dazu hast du dir das nicht mal selbst eingestehen können. Das hast du nicht gekonnt, auch wenn du sehr gelitten hast. Du hast dich stets selbst belogen. Was ist aus deinen Gedanken, deinen Träumen geworden? … Deine Ehe, wir, deine Fotos, deine Arbeit … Ist das alles? … Soll das alles gewesen sein? … Verlange das nicht von mir! … Ziehe deinen geliebten Sohn nicht in so ein Leben hinein! … Schau dich doch um! … Mit was du dich in diesem Haus, in diesem Leben tröstest … War es das, was du wolltest? … Warst du das? … Wo befindest du dich denn jetzt? …«
    Ich schwieg, schwieg weiter. Ich konnte nicht weiterhin lügen, indem ich versuchte, mein Leben zu verteidigen. Selbst ich glaubte ja nicht an die Richtigkeit des von mir gewählten Lebens … Ich hatte geglaubt, die Angelegenheit wäre erledigt. Besser gesagt, daß ich die Angelegenheit für mich erledigt hätte oder gelernt hätte, damit zu leben … Dabei war das aber nicht der Fall. Meine Gefühle erinnerten mich, konfrontierten mich erneut mit der Wahrheit, die ich all die Jahre zu ignorieren versucht hatte. Ich wollte nichts sagen. Ich wartete ab, wieder einmal wartete ich bloß ab. Doch Çela schwieg nicht, sie beschuldigte Nedi mit lauter Stimme, er täte mir unrecht … Glaubte sie an das, was sie sagte? … Es schien so. Doch nun war auch sie an der Reihe. Nedi teilte seiner Mutter mit, wie er über sie dachte, was er sah und fühlte.
    »Und was hast du getan? … Du hast die Bequemlichkeit, die Sicherheit gewählt. Du hast ebenfalls alles dafür getan, dir dieses Leben zu erhalten. Du genießt Ansehen in deinen Kreisen. Was für ein Ansehen ist das denn? … Ansehen wofür? … Was hast du eigentlich für dein Leben getan, was hast du denn wirklich getan? Außer den Dingen, in die du dich geflüchtet hast, um deine Langeweile zu vertreiben, deine Leere auszufüllen und wie deinesgleichen dein Gewissen zu erleichtern? … Und wie ernst habt ihr zumal in solchen Zeiten ausgesehen, wie stolz wart ihr auf euch, wie klug fandet ihr euch, und wie selbstbewußt habt ihr viele Frauen in eurer Umgebung nicht entsprechend geachtet … Am liebsten habt ihr euch doch gegenseitig euren Besitz gezeigt! … Eure Wohnungen, eure Kleidung, eure Reisen … Was für Etiketten, was für Aufkleber! … Was für ein Theater war das, was ihr gespielt habt? … Alles,
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