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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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Stimmen, unsere Farben … Unsere Stimmen, unsere Farben, die wir einander hatten geben und nicht geben können … Unsere Einsamkeiten … Unsere Verbannungen … Unsere geistigen Wanderungen … Unsere inneren Kämpfe … Unser Miteinander … Unsere schicksalhafte Verbundenheit … Das Meer … Das Meer verbarg viele unserer Geheimnisse … So ein Leben war unser Leben in Istanbul … So ein Leben … Mit unseren gegenseitigen Berührungen und daß wir voreinander nicht zurückscheuten … Ich zweifelte nicht, daß auch er ähnliche Gedanken hatte. Wer weiß, was wir noch alles erleben würden … Was für Kämpfe wir noch für diese Stadt und dieses Land ausfechten würden? … Aber zumindest wußte ich, daß wir einander nie mehr verlassen würden, was auch geschehen mochte, wir würden uns nie mehr verlassen … Wir hatten diese Erzählung gemeinsam begonnen, und nun waren wir beide wieder zusammen … Hier und an den Wassern dieser Stadt … Um einzustehen für unsere Kämpfe und das, was wir in diesen Kämpfen verloren hatten … Dieses Mal war er es, der das Schweigen brach.
    »Du hast recht … Diese Welt ist es nicht wert, daß man sie länger sucht … Wie viele von unseren Leuten sind wir denn noch? …«
    Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Was ich zu ihm sagte, war das, was ich schließlich mir selbst sagte.
    »Wenigstens wir sind geblieben … Wenigstens wir … Komm, ich bringe dich nach Hause …«
    Wir standen auf … Auf der Fahrt sprachen wir fast gar nicht. Wir hatten alles besprochen, was es zu besprechen gab. Wir hatten gesehen, was wir sehen konnten. Es war unfaßbar … Şebnem, die uns in dieser Erzählung so viele Erschütterungen hatte erleben lassen, war plötzlich verschwunden. Wir hatten keinerlei Grund, zu hoffen, sie könnte eines Tages zurückkehren. Wir hatten sogar schon begonnen, es richtiger zu finden, daß wir uns keine Hoffnung machten. Doch was immer wir uns selbst einreden mochten, wie sehr, in welchem Maße bot das Zuverlässigkeit für unser Weiterleben? … Wie glaubhaft wären wir, wenn wir diese Geschichte jemandem erzählten? … Konnte ein Mensch dermaßen schnell und leicht aus dem Leben eines anderen Menschen verschwinden? … Vor allem nach einer solchen Erzählung … Nach einem solchen Kampf und solchen Berührungen … Ich bin sicher, ein Romanschriftsteller würde diese Lage als Konfliktsituation darstellen. Ein Mensch, der verlorenging, würde länger gesucht werden, und zweifellos würden noch andere Erzählungen hineinverwoben. Doch unsere Erzählung war nun einmal eine solche … Man konnte sie glauben oder auch nicht. Schließlich waren dies die Ereignisse. Das war alles. Wir hatten längst gelernt zu verlieren. Wir hatten uns selbst und einander schon längst gelehrt, mit Verlusten zu leben, uns nicht unterkriegen zu lassen. Nur so hatten wir ja auch durchhalten können gegenüber denen, die uns jene Tode hatten erleben lassen. Weil wir so eine Erzählung durchgemacht hatten, waren wir ja auch wir selbst, hatten zu uns selbst werden können …
    Dann kehrte jeder in sein Zuhause zurück … Nachdem Çela sich schweigend angehört hatte, was wir erlebt hatten, sagte sie, ich hätte für meine Erzählung schon mehr als genug getan. Wir würden weiterhin füreinander dasein … Mit unseren Einsamkeiten in unseren Gemeinsamkeiten … Das war der Preis dafür, daß man nicht wegging … Das war der Preis eines Lebens, in dem man nicht wegging, sondern dablieb …
    War dieses ganze Suchen und das Verlangen, das ›Spiel‹ noch einmal zu erleben, nicht sowieso erwachsen aus dem, was diese Entscheidung mit sich brachte oder wegnahm? …

Die Spuren des Erdbebens
    Am anderen Morgen, als ich versuchte, meine neue Einsamkeit besser zu verstehen, und dabei wieder das Alleinsein wählte, mußte ich an den Ort und in die Zeit zurückkehren, wo jene Erschütterung begonnen hatte. Die Stimmen und Bilder kehrten, ob ich wollte oder nicht, auf den Weg zurück, auf dem ich mit meinen Einschränkungen zu gehen versuchte. Ich mußte auch mit jener Todesgeschichte leben, von der ich der ›Schauspieltruppe‹ nicht hatte erzählen können, ja nicht einmal Necmi. Was hatten sie sich gedacht? … Was hatten sie zu hören erwartet? … Hatten sie womöglich vermutet, ich hätte sie zusammenrufen wollen, weil ich todkrank wäre und nur noch kurze Zeit zu leben hätte? … Aber wäre es nicht sehr abgeschmackt, wenn diese Erzählung auf so einem Gefühl basierte? … Nein,
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