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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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noch habe ich keine Krankheit, die zum baldigen Tod führen könnte. Zumindest nicht, soweit ich davon weiß. Im Gegenteil: Vor ungefähr einem Jahr hat mir in einem der Cafés in Kanlıca am Bosporus, wohin ich gefahren war, um mich von meinem Kummer zu erholen und ein wenig mein plötzlich aufbrechendes Istanbulgefühl auszuleben, eine alte Zigeunerin aus den Handlinien gelesen und mir unter anderem prophezeit, ich würde zweiundneunzig Jahre alt werden. Es war nicht so leicht einzusehen, warum nun gerade zweiundneunzig und nicht neunzig oder fünfundneunzig. Wie auch immer, die Vorhersage war gar nicht schlecht. Es war schön zu erfahren, daß ich erst etwas mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir hatte … Das galt freilich für den damaligen Moment … Als ich jedoch tiefer in die Sache einstieg, insbesondere nach dem, was ich kurz zuvor erlebt hatte, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, ob ich überhaupt so lange leben wollte. Damals war ich zutiefst erschüttert von jener Konfrontation, weshalb ich mir diese Frage stellte. Ich wollte sehen, mehr sehen, wollte das erneut sehen, von dem ich mich all die Jahre ferngehalten hatte, mich fernzubleiben bestrebt hatte. In jener Zeit nun, in der ich mich bemühte durchzuhalten und neu zu erkennen, fielen die ersten Funken dieser Erzählung in mein Inneres. Woher hätte ich denn wissen sollen, was mir dann alles passieren würde? …
    An jenem Abend war schönes Wetter, der Himmel war klar. Als die Sonne unterging, wurde ich noch einmal vom Zauber der Stadt ergriffen, der ich mich mit ganzer Seele und allen Gefühlen zugehörig betrachtete. Çela war an meiner Seite, doch wir sprachen nicht, wir sprachen überhaupt nichts. Selbst das Reden fiel uns schwer. Wir fühlten bloß, daß wir in jener Zeit, in der wir uns so schutzlos fühlten wie nie zuvor, noch mehr beieinander Zuflucht suchen mußten. Ja, wir waren schutzlos und ganz nackt. Wir froren. Wir waren in Trauer. In einer tiefen, sehr tiefen Trauer … Daß die Wahrsagerin außer ihren Worten zu meinen Lebensjahren noch sagte, daß wir eines Tages, aber erst wenn die Zeit dafür gekommen sei, von sehr weit her die erwartete Nachricht bekommen würden, machte das Gefühl der Trauer noch schmerzlicher … In dieser Trauer ging es nicht um einen Todesfall der gewöhnlichen, bekannten Art. Es gab einen Tod, zweifellos, doch wir hatten sogar Schwierigkeiten, den tatsächlichen Ort jenes Todes in unserem Leben zu sehen. Was dieser Ort uns zeigte, war dermaßen schwer zu ertragen, so zerreißend und schmerzlich … Unser Sohn Nedi, der uns durch die Erfolge in seinem Studium, durch seine Lebendigkeit, seine Fröhlichkeit und seine bunte Umgebung immer die erfreulichen Seiten des Lebens gezeigt hatte, war nicht mehr bei uns … Er war weit, weit weg gegangen. Und zwar mit dem Entschluß, nie mehr zurückzukehren … Mehr noch, er hatte von uns verlangt, ihn nur im größten Notfall anzurufen. Wir sollten ihm Gelegenheit geben, sein Leben nach eigenen Vorstellungen aufzubauen … Er hatte gesagt, er erwarte von uns weder materielle noch moralische Unterstützung … Wie kann ich die Erschütterung vergessen, die an jenem Abend der Trennung begann? … An jenem Abend sah ich zum ersten Mal, wie dieser Mensch, unser Sohn, der durch all die Jahre unsere Erwartungen und die seiner Umgebung erfüllt hatte, zugleich dermaßen enttäuscht war und in sich eine derartige Empörung aufgestaut hatte. Zum ersten Mal an jenem Abend nach all den langen Jahren … In ihm war ein anderer Mensch herangewachsen, und ich, obwohl selbst aus einer so großen Empörung kommend, hatte diesen Zorn nicht bemerkt, hatte ihn nicht gespürt. Darin lag die erste Erschütterung. Doch nicht nur meinem Sohn war ich fremd geworden … Nun war es zu spät. An jenem Abend blieb uns nur übrig, die letzten Repliken eines Stücks zu sprechen und vor allem die letzten Reden unseres Sohnes anzuhören, die aus einem großen Schmerz kamen, wie wir sehen mußten. In jener Szene erlebte ich noch einmal die Wahrheit, daß verletzte Kinder wiederum nur verletzte Kinder großziehen können … Doch leider kam diese Erkenntnis sehr spät … Ich hatte die Empörung eines der mir am nächsten stehenden Menschen zugedeckt mit den Bildern eines Lebens, das ich auf den Ruinen meiner Empörung zu erbauen versucht hatte … Diese Blindheit verzieh ich mir nicht, und es fiel mir sehr schwer, sie zu ertragen. Was Nedi an jenem Abend der Konfrontation, unserer ersten
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