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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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plötzlich an der Stelle meines Vaters. Diese Stelle war nicht meine … Mein Sohn war bereit für einen Kampf, es reichte, wenn ich die Tatsache so akzeptierte. Auch er würde leben und sehen … Auch er würde sehen …
    Nach all diesen Worten kamen wir an einen Punkt, wo wir keine weiteren Gefühle austauschen konnten, zumindest für eine Weile. Çela war aus dem Zimmer gegangen. Wir waren allein. Ich war müde. Auch er sah müde aus. Es war gar nicht möglich, aus so einem Gespräch anders als müde hervorzugehen. Wir sanken in unseren Sesseln zusammen. Und zogen uns in unser Schweigen zurück … Ich erinnere mich nicht, wie lange wir so still dasaßen, ohne zu reden. Ich konnte nicht wissen, was in jenem Augenblick in ihm vorging, doch durch meinen Geist zogen viele Bilder … Mein Vater, meine Mutter, mein Aufbruch nach London, meine Rückkehr, der Laden, Kemalettin Bey … Wo, wann war der eigentliche Bruch erfolgt? … Ich hatte irgendwo zwischen den Fortgehenden und den Bleibenden gelebt … Mit meinen Erfolgen und Niederlagen … Mit meinen Irrtümern, meinen Lügen und meinen Wahrheiten, an die ich immer hatte glauben wollen … Dann … Dann hatte sich die Erzählung irgendwie weiterentwickelt … Welche Einsamkeit war dies doch, was für ein Gefängnis? … Wo in dieser Erzählung war die ›Schauspieltruppe‹? … Wir … Wir mit unseren gebrochenen Herzen, wir Zerfetzten, die wir so sehr versucht hatten, uns an uns selbst und aneinander zu klammern, die ihre Persönlichkeit nicht nach Wunsch hatten ausleben können … Wir … Waren nicht auch wir das Gewissen dieses Landes gewesen? … Die Fragen hätten mich noch einmal zu anderen Fragen führen können … Wenn mich nicht die Stimme meines Sohnes in die Gegenwart zurückgeholt hätte … Er schaute mich an. In seinen Augen lag Liebe. Eine Liebe, die ich in jenen Augenblicken sehr wohl sehen konnte … Ich fühlte, daß auch seine Stimme und seine Worte von dieser Liebe geprägt waren.
    »Verzeih mir, daß ich dir das angetan habe … Doch ich mußte es tun … Einer mußte es tun … Versuch, mich zu verstehen …«
    Ich nickte. Ich verstand sehr gut. Auch was und warum er das sagte … Das hieß, zwischen uns gab es eine unzerstörbare Brücke … Ich war ihm sowieso nicht böse. Ich war auf mich selbst böse. Auf mich selbst und mein Leben. Auf unser Leben … Auf das, was ich ihn hatte erleben lassen, ohne es zu merken … Ich konnte mir aber trotzdem jene Frage nicht verkneifen …
    »Warum hast du nicht früher etwas gesagt? … Warum erst jetzt, nach so langer Zeit?«
    Er verstand, was ich fragte. Ich versuchte herauszufinden, warum wir einander so fremd geworden waren. Seine Antwort war im ersten Augenblick seltsam, doch gleichzeitig auch sehr eindrucksvoll.
    »Ich mußte diesen Zorn ansammeln … Anders hätte ich nicht weggehen können …«
    Ich sagte nichts, gab keine Antwort. Genau besehen war dies ein recht überzeugender Grund … Damit konnte ich mich soweit begnügen. Doch er wollte noch etwas sagen, das spürte ich. Ich schwieg weiter. Solche Momente kannte ich. Was gesagt werden sollte, wurde gesagt, wenn es gesagt werden wollte. Das Schweigen öffnete einen Weg. Um zu sehen, daß meine Gefühle mich nicht getäuscht hatten, mußte dieses Schweigen noch etwas länger dauern. Dann öffnete sich jene Tür. Es war keine Tür, die sich für jeden öffnen würde … Auch der Raum, in den man durch die geöffnete Tür eintreten konnte, war kein für jedermann schicklicher Raum … Insbesondere nicht für diejenigen, die sich von jenen Traditionen gefangenhalten ließen. Seine Stimme zitterte dieses Mal leicht. In diesem Zittern, in diesem Anteilnahme erweckenden Zittern, schien auch eine kleine Herausforderung zu liegen.
    »Das ist noch nicht alles … Vater, ich lebe meine Sexualität in anderer Weise … Ich weiß nicht, was du nun denken wirst … Aber du hast das Recht, das zu wissen … Ich habe mich für meine Präferenz schon lange entschieden, verstehst du? …«
    Natürlich verstand ich … Doch was sollte ich sagen? … Die Entscheidung war seine Entscheidung, das Leben war sein Leben … Was ich in dieser Situation bloß wünschte, war, daß er wegen seiner Präferenz nicht leiden mußte. Auch er würde wie ein jeder in seinen Beziehungen leiden. Sollte er doch ruhig leiden … Führte dieses Leiden nicht dazu, daß wir den Wert mancher Freuden noch mehr schätzten? … Ich konnte lediglich wünschen, daß ihn diese seine
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