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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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genügt mir, was ich sehe. Es genügt mir auch zu wissen, daß ich ihm, seinem Weggang diese Erzählung verdanke. Das Spiel wird sich wohl niemals ändern … Manche Städte werden über zerstörten Städten errichtet oder mit den Ruinen anderer Städte erweitert … Denn es bleiben immer Ruinen übrig … Jene Spuren bleiben immer übrig … Deswegen liebe ich manche alten Zivilisationen so sehr …

Das Meer könnte erzählen
    Am Tag nach dem Abend, an dem ich zusammen mit Necmi ohne große Hoffnung nach Şebnem gesucht hatte, fuhr ich zum letzten Mal an das Ufer von Tarabya, dieses Mal allein. Den Ohrring … Den Ohrring nahm ich mit … Überall herrschte samstagmorgendliche Stille … Ich setzte mich wieder auf eine der Bänke. Wie viele Geschichten waren an diesem Ufer und in dieser Stadt passiert, und wer weiß, wie viele Geschichten noch passieren sollten … Viele Erzählungen, die erzählt und nicht vergessen werden wollten … Ein kleiner Schuhputzerjunge näherte sich mir. Er zeigte auf meine Schuhe und ließ sich mit den wohlbekannten Worten hören:
    »Soll ich sie polieren, Onkel? …«
    Ich schaute zuerst auf meine Schuhe, dann auf den Buben. Er hatte ein so unschuldiges, freundliches Lächeln … Man konnte ihn nicht enttäuschen. Ich streckte meinen Fuß vor und sagte, um ihn zu ermuntern, was mir gerade einfiel.
    »Na, dann polier sie mal, Meister! … Aber die sollen spiegelblank werden, sonst zahle ich nicht! …«
    Der Junge lächelte noch stärker. Schnell eilte er herbei, stellte seinen Putzkasten vor mich hin und setzte sich auf seinen Hocker. Ich schaute auf seine kleinen Hände und Finger. Auf seine Hände, seine von Schuhcreme verfärbten Finger … Er war in einen anderen Kampf verwickelt … In einen Kampf, von dem er noch nicht wußte, wie er ihn in Zukunft bestehen sollte … Er war wohl um die elf, zwölf Jahre alt. Um das Gespräch zu beginnen, stellte ich eine einfache Frage.
    »Wo kommst du denn her? …«
    Er gab seine Antwort ein wenig verschämt, wie es schien.
    »Mardin …«
    Mardin … Das war eine der Städte, die mich am meisten beeindruckt hatten. Wie hätte ich jene engen Gassen, die violetten gebrannten Mandeln, die Plätzchen der Süryani 36 , die alte Post und die Unendlichkeit der Mesopotamischen Ebene vergessen können? … Darüber konnte ich nicht mit ihm sprechen. Ich wollte sowieso nicht über die Stadt sprechen, sondern über ihn. Ich hoffte, uns mit einer wieder sehr leichten Frage einen Weg zu bahnen.
    »Hast du Heimweh? …«
    Während er mit der Bürste meine Schuhe säuberte und mich nicht anschaute, gab er seinen Gefühlen nun Ausdruck in der Offenheit, die zu seinem Lächeln paßte.
    »Sehnt man sich nicht nach seiner Heimat, Onkel? … Aber nun sind wir mal hierhergekommen …«
    Daraufhin fragte ich, ob er zur Schule gehe. Wieder antwortete er, ohne mich anzuschauen, doch dieses Mal in einem leicht gekränkten Tonfall.
    »Wären wir wohl Schuhputzer geworden, wenn wir zur Schule gingen? … Das ist halt die Armut … Der Wind weht einen irgendwohin …«
    Wir schwiegen ein wenig. Dann hob er den Kopf. Er lächelte weiter. In seinem Gesicht lag der Ausdruck eines früh erwachsen gewordenen Kindes.
    »Und wo ist deine Heimat? …«
    Diese Frage hatte ich nicht erwartet. Was sollte ich sagen? … Natürlich das, was ich fühlte, was ich wirklich fühlte. Nach allem, was passiert war …
    »Ich weiß nicht … Wahrscheinlich hier …«
    In seinem Gesicht breiteten sich außer jenem Lächeln auch eine leichte Verwirrung und ein wenig Ernst aus. Er verstand nicht ganz, es schien, als erwartete er eine Erklärung von mir. Auch ich lächelte. Ich durfte ihn nicht länger so im Zweifel lassen.
    »Hier, hier … Istanbul … Immer Istanbul …«
    Er verstand immer noch nicht, vielmehr schien er nicht überzeugt zu sein. Wieder genierte er sich nicht, seine Verwirrung in aller Offenheit auszudrücken.
    »Du bist aber komisch, Onkel, ziemlich komisch … Gibt es denn so eine Heimat? …«
    Gab es die nicht?… Dabei hatte ich doch versucht, meine Wirklichkeit zu beschreiben. Wovon ich überzeugt war, immer überzeugt gewesen war … Doch es war unmöglich, ihn zu überzeugen. Dann redeten wir nicht weiter. Nach kurzer Zeit war er mit seiner Arbeit fertig und stand auf. Mich drängte es, ihm viel mehr zu geben, als er erwartete. Es freute mich in solchen Situationen immer, mit den Jungen so kleine Späße zu machen. Als er das Geld sah, war er natürlich erstaunt. Er
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