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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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vielmehr waren wir der Meinung, wir täten das. Hätten wir sie doch lieber nicht gelassen. Hätten wir sie doch lieber nicht gelassen! Hätten wir doch lieber versucht, sie zu verstehen, anstatt uns in dieser Weise zu drücken. Denn eigentlich haben wir sie so noch mehr allein gelassen in ihrer Gefangenschaft. Doch diesen Fehler haben wir gemacht … Auch diesen Fehler haben wir gemacht …«
    Er hätte immer weiter gesprochen, wenn ich ihn gelassen hätte. Anscheinend konnte er mit seiner Ratlosigkeit und Reue in dem Augenblick nur auf diese Weise fertig werden. Doch auch ich hatte etwas zu sagen. Ich konnte nicht zulassen, daß er sich weiterhin so ungerecht beurteilte. War diese Erzählung außerdem nicht unser aller Erzählung? … Es blieb mir nur übrig, ihn erneut meine Anwesenheit spüren zu lassen.
    »Mach dir keine Vorwürfe … Wenn es überhaupt eine Schuld gibt, dann ist das unser aller Schuld …«
    Er schaute mich hinter seiner Sonnenbrille wieder mit jener Melancholie an. Er hatte nicht die Kraft zu widersprechen. Ich versuchte weiterzumachen.
    »Vielleicht liegt die Schuld auch gar nicht bei uns …«
    Ich versuchte, in diesen Worten meine Ratlosigkeit mitzuteilen. Und doch war ich nicht bereit, die Fahne der Niederlage zu hissen. Ich wollte uns beiden auch Kraft geben. Uns beiden … Mit letzter Hoffnung unternahm ich mein möglichstes, sowohl ihn als auch mich in Bewegung zu setzen. Meine Worte erschienen äußerlich wie Worte eines Menschen, der die Niederlage nicht akzeptierte. Doch eigentlich war mir bewußt, daß wir beide darum kämpften, uns an die Situation zu gewöhnen, in der wir uns befanden. Dennoch mußte das Spiel gespielt werden, irgendwie mußte es gespielt werden.
    »Los, steh auf! … Wir gehen zusammen noch einmal an alle diese Orte … Noch einmal … Wir suchen sie! … Wir müssen sie finden! …«
    Er lächelte. Beide wußten wir, daß wir eine Lüge spielten. Es war nicht allzu schwer, diesen Sachverhalt zu erkennen. Denn die Jahre hatten mich nicht nur mich selbst zu erkennen gelehrt, sondern auch ihn. Auch ihn … Zumindest so weit, um diese Behauptung aufstellen zu können. Ich wußte, dieses Spiel war das letzte, das wir gemeinsam für Şebnem spielten. Wir standen auf und stiegen ins Auto. Wir fuhren erneut zu den Stellen, an denen er schon gewesen war. Zu einer nach der anderen, überallhin … Überallhin, wo wir hingehen konnten … Sie war nicht da … Sie hatte nicht mal eine winzige Spur hinterlassen … Nicht einmal eine winzige Spur … Der letzte Ort, den wir aufsuchten, war das Bosporusufer bei Tarabya … Auf der Fahrt sahen wir noch einmal die Stadt, in der wir lebten, die uns aber fremd geworden war. Die Realität zog an uns vorüber. Wir fuhren an dieser Realität vorbei. Unser ›Spiel‹ war wahrscheinlich wirklich ein Spiel. Istanbul ist mein Leben war ein Spiel, ein Spiel, das sich von der Geschichte der Stadt, der Wirklichkeit der Stadt mit jedem Tag mehr entfernte … Unser eigentliches Spiel aber war ein Scherz. Ein böser, trauriger, riesiger Scherz … Unser Spiel … Unser Spiel war inzwischen ein Spiel mit dem Tod geworden. Şebnem hatte es nicht ertragen, am Rand des Abgrunds zu stehen. Sie war in den Abgrund hinuntergesprungen, vielleicht war sie schon längst hinuntergesprungen. Vielleicht kam die eigentliche Freiheit durch das Hinunterspringen in diesen Abgrund … Hinunterspringen und sich nicht von den Ängsten gefangennehmen lassen … Allerdings mußte uns die Stelle, an der wir sprangen, nicht unbedingt den Tod bringen. Es gab immer auch eine andere Möglichkeit. Solange man sich den Tatsachen nicht stellte, gab es immer eine andere Möglichkeit … Deswegen wollte ich glauben, daß sie noch lebte, daß sie irgendwo weiterlebte. Wir mußten glauben, daß sie noch lebte, alle beide mußten wir das glauben. Wir mußten uns an diese Möglichkeit klammern, um uns desto mehr mit dem Leben zu verbinden. Wir schauten aufs Meer … Dieses Gefühl wollte ich aussprechen.
    »Vielleicht war ja auch die Welt, die sie sich als Exil gewählt hatte, die richtige … Vielleicht war es diese Welt hier nicht wert, sie zurückzubringen … Laß gut sein, wir wollen hier einhalten … Laß uns versuchen zu glauben, daß sie an dem Ort, an den sie gegangen ist, glücklicher ist als wir …«
    Wir schwiegen … Wieder saßen wir nebeneinander auf einer jener Bänke und schauten aufs Meer. Das Meer und unsere Geschichte, sagte ich zu mir selbst … Unsere
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