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Schwarze Schmetterlinge

Schwarze Schmetterlinge

Titel: Schwarze Schmetterlinge
Autoren: Anna Jansson
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1
    Der Spätsommer lag wie ein wehmütiger Schatten über dem Fischerdorf der Kindheit. Die wachsamen Halme des Schilfröhrichts fingen das Geflüster des Meeres auf. Die uralten Steine in der Mauer, die die kleine Steinkirche umgab, murmelten leise von einer längst vergangenen Zeit. Von der Zeit, bevor der Mensch auf die Erde trat und als das Weltall noch eine Einheit war. Vor dem Urknall, der Explosion, als das ganze Wissen und die ganze Weisheit in alle Winde verstreut wurden.
    Fast dreißig Jahre waren vergangen, und doch war nichts vergessen oder vergeben. Die Erde, das Meer, die Luft und das Feuer waren ihre ewigen Zeugen. Die Realität und die veränderlichen Erinnerungsbilder der Phantasie – sie bildeten die Wahrheit, die ihr weiteres Leben formen und lenken würde. Umgeben von den Düften der Kindheit wurde aus der erwachsenen Frau wieder ein mageres sechsjähriges Mädchen.
    Pyret zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Lauschte dem Wind, während sie eine Möwe beobachtete, die auf die glühende Sonne zuflog, ohne sich die Flügel zu versengen. Vielleicht war sie besonders geschickt und traute sich, mit dem Feuer zu spielen. Genau wie Ikarus mit seinen Wachsflügeln. Die zerrissene Stofftasche mit dem Bild von Ikarus hatte Mama auf Kreta gekauft. Pyret hatte sie mit fünf Reißzwecken über ihrem Bett befestigt, zwischen den Zeitungsausschnitten.
    Die sanfte Kuhle im Sand schützte sie vor dem kalten Wind, der vom Meer heraufzog. Die Geschichte, der sie lauschte, handelte von der Prinzessin, die sich selbst in Stein verwandeln konnte. Eine unsichtbare Königstochter. Verborgen zwischen Tausenden von Steinen am Meeresstrand. Sie war zu Stein geworden, um keine Schmerzen zu empfinden, wenn Menschenfüße über ihre graue Haut trampelten. Im Sommer war sie heiß von der Sonne, im Winter weiß vom Frost. Der weiche Kern in ihrem Inneren jedoch war unerreichbar. Die Strandastern steckten ihre Köpfe zusammen und wisperten von dem König, der kommen würde, um sein Kind zu suchen. Sie erzählten sich, wie er auf der Suche nach der Prinzessin sei, die seinerzeit von den bösen Trollen gegen einen schmutzigen Wechselbalg namens Pyret ausgetauscht worden war.
    Mama saß auf der karierten Decke und summte vor sich hin. Der kleine Bruder schlief, in eine Decke eingehüllt, auf dem Rücken. Der Schnuller war ihm aus dem Mund geglitten, und er schnarchte ein wenig. Mama berührte mit ihrem Zeigefinger seine Wange, und tief unten in Pyrets Bauch erwachte das Monster mit seiner schuppigen Haut. Es drehte sich einmal um sich selbst, eher es wieder Ruhe gab. Sie hatte diesen Schreihals noch nie leiden mögen. Er war die reinste Plage. Wenn er kackte, dann quoll ihm eine widerliche hellgrüne Soße aus der Hose. Dann schrie er, sodass sein Gesicht ganz rot und schrumplig wurde. Todsicher war auch er ein Wechselbalg, ein Trollkind. Oder aber ein Außerirdischer.
    Weiter unten am Wasser war der Sand feucht und leicht zu formen. Jemand hatte dort einen Eimer vergessen. Ohne Mama aus dem Blick zu verlieren, füllte sie ihn mit Sand und häufte drei Eimer voll zu einem Turm auf, den sie mit einer Mauer umgab. Dann grub sie einen Wallgraben, der nach und nach mit Salzwasser gefüllt wurde.
    Mama saß auf der Decke, wo sie auch hingehörte. Wenn man sie nicht im Blick behielt, konnte sie leicht verschwinden. Wenn man sie nicht beaufsichtigte, würde womöglich auch sie gegen eine Trollmutter ausgewechselt werden.
    »Willst du einen Keks?« Mamas Stimme kam aus dem einen Mundwinkel, auf der anderen Seite wippte der Zigarettenstummel. Die Glut hinterließ einen langen Aschepfeiler, der auf den geblümten Rock und den fusseligen Acrylpullover fiel. Mama streckte Pyret die Kekspackung hin. »Du kannst alle haben, die noch drin sind.«
    Pyret quetschte sich die Kekse in den Mund, alle drei auf einmal.
    »Guck mal, Mama, ich habe einen riesigen Sandturm gebaut. Mit Muschelfenstern. Im Turm sitzt eine Prinzessin. Der König sucht nach ihr, aber er kann sie nicht sehen, denn für ihn ist sie unsichtbar. Auf seinen Augen liegt ein böser Zauber. Aber eines Tages, wenn der Zauber gebrochen ist, wird er wieder sehen können. Dann kommt er und holt sie. Guck mal, Mama! Da hinten ist er.«
    »Jetzt nicht. Ich kann nicht. Lass mich in Ruhe.« Mama legte sich in einem schützenden Halbkreis um den kleinen Bruder, und das Monster in Pyrets Bauch jaulte vor Wut auf. Ihre Hände füllten sich ganz von selbst mit Sand. Eine Handvoll nach der
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