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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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was ihr getan habt, war in einem sehr schicken, sehr hübschen Paket verpackt … Doch das Paket war leer, verstehst du, das Paket war vollkommen leer. Denn drinnen in diesem Paket wart nicht ihr, nur euer Etikett war drauf. In diesem Paket waren im Grunde nicht einmal wir Kinder … Obwohl ihr überzeugt wart, viele eurer Anstrengungen nur für uns auf euch genommen zu haben … Darin besteht ja gerade das Problem. Daß ihr es für uns getan habt, nicht für euch … Denn auch wir waren ein Etikett. Euer Reichtum war eine riesige Armut. Das sage ich, Mutter, ich, verstehst du? … Ich als Insider … Verstehst du Mutter? …«
    Selbst Çela, die normalerweise viele Probleme mit großem Selbstbewußtsein löste, wurde angesichts dieser Worte unsicher. Sie hatte ausreichend Verstand und Gefühl, um das Gesagte wirklich zu verstehen. Zweifellos rührte ihre Unsicherheit daher. Trotzdem hatte sie nicht die Absicht, die Waffen zu strecken. Man konnte in ihren Worten die Absicht sehen, auf ihren Sohn seelischen Druck auszuüben, doch meiner Meinung nach verrieten sie eher Hilflosigkeit.
    »Unsere Traditionen, Nedi … Unsere Traditionen … Wir haben uns Mühe gegeben, eine Familie zu sein … Was war daran falsch, was war daran schlecht? …«
    Ich konnte an der Ehrlichkeit ihrer Worte nicht zweifeln. Sie glaubte wirklich an das, was sie sagte. Wie alle Frauen, die so wie sie leben und zu leben wählen … Aber auch Nedi war nicht gewillt aufzugeben, obwohl er zweifellos die Gefühle seiner Mutter verstand. Wie sollte er sie nicht verstehen … Vom Tag seiner Geburt an war er in das Spiel der Traditionen eingebunden gewesen. Das Spiel war das Leben selbst gewesen, die Wahrheit selbst. Auch das wußte er zweifellos. Auch das. Doch er war zornig, sehr zornig. Seine Antwort auf den Ausbruch seiner Mutter machte diesen Zorn ganz offenkundig.
    »Laß das Geschwätz, Mutter! … Hör endlich auf, dir etwas vorzulügen! … Gib doch zu, du hast die Ruhe gewählt, du hast dich entschieden, um dein Leben nicht wirklich zu kämpfen! … Es ist leicht, sich hinter den Traditionen zu verschanzen. Du hast dieses Spiel geliebt, weil es ganz ungefährlich war. Dieses Spiel der Traditionen ist das Spiel aller Frauen, die sich für ein Leben wie deins entschieden haben. Aller Frauen, Mutter, aus welcher Tradition sie auch kommen mögen … Aus welcher Tradition auch immer. Und wie sehr ähnelt ihr einander doch in dem Augenblick, wo ihr euch entschieden habt, durch das Hochhalten der Traditionen eure Persönlichkeit auszulöschen. Heiraten, Kinder kriegen und, ohne selbst etwas zu produzieren, gestützt auf die finanziellen Möglichkeiten, die dir jemand gewährt, eine angeblich gebildete Frau spielen. Traditionsgebundenheit gibt es überall, doch wenn sie die Persönlichkeit des Menschen vernichtet, wenn sie verhindert, daß der Mensch so lebt, wie er will, ist sie lediglich ein Nichts, nur ein Nichts! …«
    Seine Worte erschütterten und begeisterten mich zugleich. Eigentlich mußte ich mich freuen. Mich freuen und sogar stolz auf ihn sein. Es war nicht so wichtig, ob er recht hatte oder nicht, ob er richtig dachte oder falsch. Ich wußte, daß das Richtige für jeden Menschen anders war, und ich wußte auch, daß jeder Mensch das Recht hatte, so zu leben, wie er es als richtig empfand. Für was auch immer Nedi sich entschieden hatte, das wichtigste war, er protestierte, er sagte nein. Ich hätte diese Seite der Wirklichkeit sehen können, um die Freude voll auszukosten. Aber ich konnte mich nicht freuen … Ich konnte mich nicht freuen, denn er tat, was ich nicht hatte tun können. Ich konnte die Tatsache in seinen Augen sehen, in seiner Stimme hören. Ich hätte zu ihm sagen können: »Warum Kanada? … Was ist schlecht an deiner Heimat … Warum kämpfst du nicht hier deinen Kampf? … Du willst doch nicht etwa auch fliehen? …« Aber ich wußte, das war nicht das Problem. Das war nicht das eigentliche Problem. Denn dieses Richtige galt nur für mich, und das Gefühl, mich an diese Stadt gebunden zu fühlen, war nur mein Gefühl … Insofern hätte ich mich durch den Wunsch entlasten können, er möge in der Ferne Menschen finden, die ihm nahestanden … Doch in dem Augenblick … Doch in diesem Augenblick wünschte ich genau das Gegenteil. Er sollte einen Fehler einsehen, er sollte Reue fühlen … Danach schämte ich mich. Ich schämte mich, weil ich auch nur einen kurzen Moment lang dieses Gefühl gehabt hatte. Ich sah mich
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