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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden
Autoren: Greg Iles
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1
    W o fängt Mord an?
    Mit dem Betätigen eines Abzugs? Mit der Entstehung eines Motivs? Oder fängt er schon viel früher an, wenn ein Kind mehr Schmerz herunterschluckt als Liebe und sich für immer verändert?
    Vielleicht spielt es keine Rolle.
    Oder es ist wichtiger als alles andere.
    Wir urteilen und strafen auf der Grundlage von Tatsachen, doch Tatsachen sind nicht die Wahrheit. Sie sind wie ein vergrabenes Skelett, das lange nach dem Tod exhumiert wird. Die Wahrheit ist fließend. Die Wahrheit ist lebendig. Die Wahrheit zu kennen erfordert Verständnis, die schwierigste aller menschlichen Künste. Die Wahrheit zu verstehen macht es nötig, alle Dinge zugleich zu sehen, zugleich nach vorn und nach hinten zu blicken, so wie Gott.
    Nach vorn und nach hinten …
    Also fangen wir in der Mitte an, mit einem läutenden Telefon in einem dunklen Schlafzimmer an der Küste des Lake Pontchartrain in New Orleans, Louisiana. Eine Frau liegt auf dem Bett, den Mund offen im tiefen, bewusstlosen Schlaf. Sie scheint das Telefon nicht zu hören. Schließlich aber dringt das Schrillen zu ihr durch wie der Stromschlag von Defibrillatoren, mit denen man versucht, einen komatösen Patienten zu wecken. Die Hand der Frau zuckt unter der Bettdecke hervor und tastet nach dem Hörer, ohne ihn zu finden. Sie schnappt nach Luft, stützt sich auf einen Ellbogen. Dannstöhnt sie leise und nimmt den Hörer vom Telefon auf dem Nachttisch.
    Die Frau bin ich.
    »Dr. Ferry«, krächze ich.
    »Hast du geschlafen?« Die Stimme ist männlich und klingt gepresst vor Zorn.
    »Nein.« Ich leugne ganz von selbst, doch mein Mund ist trocken wie ein Baumwollbausch, und mein Wecker zeigt 8 Uhr 20.
    Ich war neun Stunden wie bewusstlos. Der erste tiefe Schlaf seit Tagen.
    »Er hat wieder zugeschlagen.«
    Irgendetwas regt sich in meinem schläfrigen Hirn. »Was?«
    »Es ist jetzt das vierte Mal, dass ich in der letzten halben Stunde angerufen habe, Cat.«
    Die Stimme lässt Zorn, Verlangen und Schuldgefühle in mir aufwallen. Sie gehört dem Police Detective, mit dem ich in den vergangenen achtzehn Monaten geschlafen habe. Sean Regan. Ein verständnisvoller, faszinierender Mann mit Frau und drei Kindern.
    »Was hast du davor gesagt?«, frage ich, bereit, Sean den Kopf abzubeißen, falls er mich zu fragen wagt, ob wir uns irgendwo treffen können.
    »Ich sagte, er hat wieder zugeschlagen.«
    Ich blinzle und versuche mich in der Dunkelheit zu orientieren. Es ist Anfang August, und der purpurne Schein der Abenddämmerung dringt schwach durch die Vorhänge. Gott, wie trocken mein Mund ist. »Wo?«
    »Im Garden District. Der Besitzer einer Druckerei. Männlich, weiß.«
    »Bisswunden?«
    »Schlimmer als die anderen.«
    »Wie alt?«
    »Neunundsechzig.«
    »Mein Gott. Er ist es.« Ich schwinge mich aus dem Bett. »Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.«
    »Stimmt.«
    »Sexualtäter töten Frauen oder Kinder, Sean. Aber keine alten Männer.«
    »Wir hatten diese Unterhaltung schon. Wie schnell kannst du hier sein? Piazza sitzt mir im Nacken, und möglicherweise kommt der Chief persönlich vorbei, um sich die Sache anzusehen.«
    Ich nehme die Jeans von gestern vom Stuhl und ziehe sie über mein Höschen. Victoria’s Secret, Seans Lieblingswäsche, doch er wird sie heute Nacht nicht zu sehen bekommen. Vielleicht für lange Zeit nicht mehr. Vielleicht nie wieder. »Irgendein homosexueller Aspekt bei diesem Opfer? Hat er sich mit männlichen Prostituierten getroffen? Etwas in der Richtung?«
    »Nicht der kleinste Hinweis«, antwortet Sean. »Er ist auf den ersten Blick genauso sauber wie die anderen.«
    »Wenn er einen Computer zu Hause hat, lass ihn sicherstellen. Er könnte …«
    »Ich kenne meinen Job, Cat.«
    »Ich weiß, aber …«
    »Cat.« Die einzelne Silbe ist wie ein tastender Finger. »Bist du nüchtern?«
    Heiß steigt es mir das Rückgrat hoch. Ich habe seit fast achtundvierzig Stunden keinen Tropfen Wodka mehr getrunken, doch ich werde Sean nicht die Befriedigung geben, auf sein Verhör zu antworten. »Wie heißt das Opfer?«
    »Arthur LeGendre.« Er senkt die Stimme. »Bist du nüchtern, Süße?«
    Das Verlangen ist bereits wach in meinem Blut, wie kleine Zähne, die an den Wänden meiner Adern nagen. Ich brauche das anästhesierende Brennen eines Schusses Grey Goose. Aber das darf ich nicht mehr. Ich habe Valium genommen, um die körperlichen Entzugserscheinungen zu bekämpfen. Dochnichts kann den Alkohol richtig ersetzen, der mich so lange
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