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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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    H eute habe ich merkwürdige Post bekommen: Nämlich von mir selbst. Im Briefkasten lag ein Romanmanuskript, das ich vor fünfundzwanzig Jahren (ich formuliere es poetischer: vor einem Vierteljahrhundert) an einen deutschen Verlag geschickt habe, wo es aber – so jedenfalls die spätere Auskunft dieses Verlags – niemals angekommen ist. Daraufhin wandte ich mich damals an die Post: Dort leitete man eine Suche ein, die aber ergebnislos verlief. Seither galt mein Manuskript als verschollen. Der Schaden hielt sich für alle in Grenzen: Die Post bedauerte, kommt aber bei Verlusten für ideelle Werte prinzipiell nicht auf. Der Verlag bekam auch ohne meines mehr als genug Romanmanuskripte junger Schriftsteller angeboten, die er praktisch alle ablehnte, und ich selbst habe mir höchstwahrscheinlich bloß eine Absage, ein Frustrationserlebnis, eine Peinlichkeit mehr erspart. Es sind ja auch so genügend Absagen gekommen. Und jetzt, nach einem Vierteljahrhundert, ist mein Manuskript plötzlich und unvermutet wieder zu mir zurückgekehrt, originalverpackt und mit dem Hinweis der Post auf dem Kuvert versehen:  Unzustellbar! Zurück zum Absender!   Empfänger unbekannt!  Das glaube ich gern: Der Verlag existiert ja längst nicht mehr.
    In zwei Jahren werde ich fünfzig. Daher kann ich mich daran, was ich als knapp Zwanzigjähriger geschrieben habe, nicht mehr genau erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich versucht habe, ein Jahr meines Lebens zu erzählen, nur eben nicht in Tagebuchform, sondern als Roman. Der trägt den Titel  Der Ernst des Lebens , könnte aber auch  Das zwanzigste Jahr  heißen. Es geht um die Schwelle zum Erwachsenwerden – und um die Schwellenängste. Zuerst wollte ich Emma anrufen, um die Neuigkeit loszuwerden: Liebling, mein früheres Ich ist zurückgekommen! Aber Emma war bei der Arbeit. Entweder saß sie in einer Besprechung oder sie hielt einen Vortrag oder sie nahm eine Prüfung ab. Jedenfalls hätte sie höchstwahrscheinlich gar nicht abgehoben, sowohl am privaten, als auch an ihrem Diensthandy wäre ich sofort mit Emmas Sprachbox verbunden worden, die sie aber nie abhört und die ich nicht besprechen will. Ich wollte sie auch nicht stören. Zu Mittag würde sie keine Zeit und kein Organ zum Zuhören haben, »schnelle Küche machen«, essen und wieder gehen. Abends würde Emma mit Adriana für den Geografietest afrikanische Hauptstädte auswendig lernen müssen, Hefte korrigieren, über ihre Dreifachbelastung stöhnen (Beruf! Haushalt! Familie! – die Beschäftigung mit ihrem eigenen Psychodrama noch gar nicht mit eingerechnet!), ein Kreuzworträtsel lösen, die Nachtkästchenlampe ausschalten und auch schon eingeschlafen sein.
    Ein zufällig aufgetauchtes, fünfundzwanzig Jahre altes Manuskript eines postpubertären Jünglings hätte in einem so ausgefüllten Tag keinen Platz und würde keine Aufmerksamkeit finden. Das musste ich einsehen. Nicht alle Menschen haben so viel Zeit wie ich. Um die Wahrheit zu sagen: Kaum ein Mensch hat so viel Zeit wie ich. Manchmal denke ich: Wenn sie einmal gestorben sind, werden die meisten Menschen ihr Leben lang keine Zeit gehabt haben.
    Ich beschloss, Emma vom  Ernst des Lebens  vorerst gar nichts zu erzählen und auf die großen Ferien zu warten. Die würden in einem halben Jahr beginnen. Ich führe das ganze Jahr lang eine Liste, in die ich in Stichworten eintrage, was ich mit Emma in den großen Ferien alles besprechen muss, was ich ihr alles erzählen werde, was ich sie alles fragen möchte. Im Juni ist die Liste immer schon so lang, dass zwei Monate nie und nimmer ausreichen, um sie abzuarbeiten. Viele Fragen und viele Themen haben sich aber freilich von allein erledigt. Vor fünfundzwanzig Jahren kannte ich Emma noch nicht, geschweige denn, dass wir verheiratet gewesen wären. Es sollten noch Jahre vergehen, bis wir einander gegen Ende unserer Studien an der Universität begegnen würden. Aus Emmas Sicht erzählt ein Unbekannter den Ernst des Lebens. Die Menschen, mit denen ich damals zusammen war, mit denen bin ich heute nicht mehr zusammen, auch wenn ich ein Vierteljahrhundert später noch immer in derselben kleinen Stadt und nach einer Unterbrechung von ein paar Jahren wieder in demselben Haus lebe wie damals. Die wenigen Vertrauten von heute kannte ich damals noch nicht. Meine Zellstruktur, das habe ich gelernt, hat sich seit damals dreimal vollständig ausgetauscht. Meine Gesellschaft auch. Ich bin ein anderer geworden, aus dem ein anderer
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