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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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geworden ist, aus dem ein anderer geworden ist, der ich jetzt bin. Was ich heute aus dem Postkasten geholt habe, ist genau genommen die Botschaft aus einer anderen Welt. Es wäre vielleicht klüger gewesen, sie gar nicht erst zu öffnen und schon gar nicht darin zu blättern.
    Der dreiundzwanzigste Jänner, den wir heute schreiben, würde an sich bloß einen Selbstmord rechtfertigen. Der Tag bietet nur klimatische Abscheulichkeiten. Vor dem Handanlegen denke ich aber an die Gedanken, die ich am fünfzehnten Jänner gedacht habe. Damals habe ich mir ja nichts sehnlicher gewünscht, als dass wenigstens schon der dreiundzwanzigste wäre, weil der ärgste Winter dann bald überstanden wäre. Trotz des wilden Schneegestöbers, der beißenden Kälte und der düsteren Prophezeiungen aus der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik lässt sich nicht leugnen, dass die Dämmerung heute bereits eine halbe Stunde später hereinbricht als noch zum Jahreswechsel. Also kann auch der Schnee, der am dreiundzwanzigsten Jänner fällt, nicht mehr lange liegen bleiben.
    Im Kopf keimt schon ganz schüchtern der Frühling! Im Kopf erwacht die Natur, schmilzt der Schnee, blühen Schneeglöckchen und Krokusse im Garten. Im Kopf beginnt die Frühjahrssaison der Fußballbundesliga. Im Kopf tanzen die Bilder des Sommers mit Eisdielen und den Laternen des Strandcafés in lauen Nächten. Durch den Kopf spazieren junge Mädchen mit jungen Augen, jungen Herzen und kurzen Röcken. Im Kopf rauscht das adriatische Meer, dieses allergrößte Abenteuer, aus dem so viele kleine Abenteuer herausfallen.
    Der Kopf schaut aus dem Küchenfenster, und er sieht nicht nur den wilden Schneeflockentanz, sondern spiegelt sich auch und sieht sich selbst, wie er im letzten Winter hier gesessen ist und bei Tee und Tabak vor sich hin geträumt hat. Der Frühling ist gekommen, die Bundesliga hat begonnen, nur die Mädchen haben sich geziert. Jedes Jahr dasselbe. Trotzdem freue ich mich auch heuer wieder auf den zweiten Februar. Denn dann ist der ärgste Winter bald überstanden. Ab Maria Lichtmess geht es wieder aufwärts, von da weg ist die schöne Zeit nur noch eine Frage der Zeit. Der Jänner ist mein persönlicher Advent.
    Otto hat gerade angerufen, ob ich nicht auf einen Sprung bei ihm vorbeischauen wolle. Er wohnt im achten Stock. Vom Balkon aus hat man eine schöne Aussicht auf die Stadt. Wenn seine Eltern verreist waren, haben wir uns schon einige fröhliche Nächte um die Ohren geschlagen, getrunken, geraucht, Musik gehört, gegrölt, mit schönen Frauen und großen Abenteuern angegeben. Das Abenteuerlichste an Abenteuern ist ihr Schatten. Meistens hat solche Abende irgendwann in den frühen Morgenstunden die Funkstreife beendet, weil sich Mieter wegen … na ja, das Übliche.
    Otto lässt sich viel Zeit. Er hat ja angerufen, warum erwartet er mich nicht? Eine Inszenierung, gewiss. Ich läute ein zweites Mal, Schritte, dann öffnet Otto – im Morgenmantel. Um diese Zeit! Morgenmantelmetapher. Er braucht Zeugen. Er braucht Applaus. Er hat keinen anderen am Telefon erwischt. Was für eine Pose der Indisponiertheit! Was für eine zwischenmenschliche Sensation muss sich hier abgespielt haben!
    »Das ist Mary«, sagt Otto, und zu ihr: »Mary, mein Freund Philipp!« – »Hallo«, sage ich, wodurch schön zum Ausdruck kommt, dass ich weniger beeindruckend als beeindruckt bin. »Nice to meet you, Phil!«, sagt sie von der Couch aus im Schneidersitz. Es existiert in der Wohnung sogar ein Zweitmorgenmantel. Unter dem zeichnet sich ein leckerer Frauenkörper ab. Otto proudly presents … Mein Gott, da blinzelt sogar ein Stückchen Oberschenkel hervor. Original englischer Qualitätsoberschenkel! Ein Volltreffer! 1 : 0 für Otto! Sein Oberschenkel gewissermaßen, seine Errungenschaft, behaltet dies im Gedächtnis! »Man kann sich gar nicht vorstellen, wie gut Engländerinnen im Bett sind«, deklariert Otto. »Ein Gummimensch«, sagt er ganz ungeniert, weil Mary kein Wort Deutsch spricht und daher auch das Wort Gummimensch nicht versteht. »Zweiundzwanzig«, sagt Otto, »aus London, Krankenschwester. Sie arbeitet aber nicht im Spital, sondern ist begüterten Privatpatienten zur Pflege zugewiesen. Sie ist auf Du und Du mit den oberen Zehntausend! Verhältnismäßig angenehme, gut bezahlte Arbeit.« Kennengelernt hat er Mary letztes Jahr in London, erzählt Otto, als er wie jedes Jahr auf großer Reise war. »Damals ist aber gar nichts passiert, ehrlich, alles ganz
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