Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
Vom Netzwerk:
platonisch, nur nett. Jetzt ist Mary für ein paar Tage auf Besuch gekommen, um Skifahren und Eislaufen zu lernen. Ich habe mich als Skilehrer zur Verfügung gestellt. Zumindest das Après-Ski erlernen auch die Britinnen!«, sagt Otto. »Meine Devise lautet: Lieber griechisch als platonisch!« – »Sehr eindrucksvoll!«, sage ich Otto, denn das will er ja hören, »herzliche Gratulation!«
    Ach, lieber junger Mann, junge Leute sind mit dem Hand-an-sich-Legen schnell bei der Hand. Den Winter findest du nur so schrecklich, weil du noch so viele vor dir hast. Als älterer Herr freundest du dich auch mit dem Winter wieder an und magst ihn, wie du ihn als kleines Kind gemocht hast. In fünfundzwanzig Jahren liebst du sogar den dichten Novembernebel, wart’s nur ab! Du bist jetzt einfach noch viel zu beweglich! Pass bloß auf deinen Kopf auf! Natürlich muss man auch den Selbstmord aus Langeweile ernst nehmen, Male di vivere, Saudade, Ennui, Échec, du wirst noch viel darüber lesen. Aber, lieber junger Mann, wenn sich im Lauf des Lebens ein Übel wirklich bessert, dann das: Später wirst du tagelang nichts tun können, aber du wirst keine Langeweile verspüren! Und was Otto betrifft – aber das erzähle ich dir vielleicht später. Ich habe gerade eine Mail meiner Dissertantin Frau Großholtz bekommen, und die muss ich natürlich beantworten! Nein, nein, junger Mann: Ich bin kein Professor geworden, kein Beamter. Sie dissertiert nicht bei mir. Sie dissertiert über mich.
    Am nächsten Nachmittag gehen wir eislaufen. Mary steckt in den alten Schlittschuhen von Ottos Schwester. Sie zittert vor Kälte, aber sie lächelt. Dass ein ganzer See zufrieren kann, fasziniert sie. Einen zugefrorenen See kannte Mary nur von Bildern und aus dem Fernsehen. Absolutely astonishing! What an adventure! Ich stütze Mary von der linken Seite, Otto von der rechten, und gemeinsam schieben wir sie über die Eisbahn. Sie ist sehr konzentriert. Andere Schlittschuhläufer und Eishockeyspieler empfindet sie als Sicherheitsrisiko. Als sich Mary auf die Bank setzt und die Eisschuhe wieder auszieht, raucht es aus ihren Wollsocken. Sie hat Zigaretten aus London mitgebracht.
    Die Wintersonne kämpft sich durch die Wolken. Am Ufer des Teiches ist Schilf festgefroren, dahinter dunkle Nadelwälder mit angeschneiten Tannenspitzen, dahinter sanfte Hügel, verschneite Äcker, eine kleine Kapelle. Darüber tiefblauer Winterhimmel. Vor dem Winterpanorama Mary und vor ihr Otto, der plötzlich seine Kamera zückt und sie fotografiert. »Oh, please don’t do it!«, ruft sie und hält sich die Hände vors Gesicht. »Come on«, gibt Otto zurück, »don’t be shy, you look so pretty!«
    »Oh please, don’t do!«
    »Come on, Mary, smile!«
    »Oh please, don’t!«
    »Am Ende sagt sie nur noch ›oh!‹«, sagt Otto und fotografiert und fotografiert und fotografiert. Mary lächelt tatsächlich, aber es ist ein Lächeln, das mehr hilflose Verzweiflung als Vergnügen ausdrückt, und das sieht man auf den Bildern auch. Mary wird in Ottos Album enden, ob es ihr passt oder nicht. Auch ich bin in diesem Album, aber ich lächle nicht. Wegen der Seele und wegen der Zähne.
    Das war, liebe Frau Großholtz, die Idee für den Anfang eines Romans, in den ich meinen Pubertätsroman  Der Ernst des Lebens , außerdem noch die Erzählung  Das dreißigste Jahr , zehn Jahre später, und den Roman  Junge Akademiker , fünfzehn Jahre später geschrieben, – und glücklicherweise alle unveröffentlicht – hineinschneiden und den damaligen pubertären und postpubertären Helden von heute vom Status quo erzählen wollte, von ihrer Zukunft, von enttäuschten Hoffnungen, da und dort auch von unverhofften Entwicklungen.
    Der Ernst des Lebens  ist die chronologische Beschreibung des Jahres, als ich zweiundzwanzig war, mitgeschrieben eben in diesem Jahr. Einen unpolitischeren Roman kann man sich nicht vorstellen. Es gibt nur ein Thema: Frauenschau. Um es ganz genau zu sagen: Frauenschau eines schüchternen, verklemmten Jünglings. Denn mit all den Zufallsbekanntschaften passiert genau nichts. Der Roman besteht ausschließlich aus Stadtspaziergängen, Seeuferspaziergängen, Kaffeehausbesuchen, Wirtshausbesuchen, Zeltfestbesuchen, Besäufnissen, dann und wann ein Stadionbesuch. Im Kopf des Erzählers hat genau genommen ein einziger Gedanke Platz: Ich würde so gerne geliebt werden. Ich würde so gerne küssen. Ich würde so gerne mit einer Frau ins Bett gehen. Aber mit wem? Es lässt mich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher