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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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Masse quetschen. Der Automat funktioniert nur, wenn man ihn brutal bedient. Zwei Schillingmünzen, unterstützt von einem Handkantenschlag, ergeben eine Handvoll gesalzener Erdnüsse. Auf dem Rückweg packt mich jemand von hinten am Arm. Ich drehe mich um und sehe zwei Mädchenaugen. Elfi. Eine Ewigkeit nicht gesehen. Gymnasium. Sie war damals im Redaktionsstab der Schülerzeitung.
    Wie geht’s dir denn? Was tust du denn?
    Mir geht’s gut. Ich tu nichts.
    Bevor das Schweigen zu lange und zu peinlich wird, fällt mir im allerletzten Augenblick ein, dass auch ich Elfi fragen könnte, wie es ihr denn so geht und was sie denn so tut. Sie ist gerade in eine neue Wohnung gesiedelt, sagt sie. Autoritärer Vater, schreckliche Konflikte, kannst du dir ja denken.
    Elfi steht jetzt vor einer Eignungsprüfung in Philosophie.
    »Eignungsprüfung?«
    »Ja, Abendschule, zweiter Bildungsweg. Das Gymnasium habe ich abgebrochen.«
    In zwei Wochen wird die Prüfung stattfinden, und sie hat jetzt schon Kopfschmerzen, wenn sie bloß daran denkt! Empirismus! Realismus! Idealismus! Dogmatismus! Skeptizismus! Transzendentalphilosophie, keine Ahnung! Metaphysik und Erkenntnistheorie! Aber sie will studieren. Sie will etwas aus sich machen … Da siehst du wieder einmal, wie das die anderen anlegen, junger Mann! Ausziehen! Eignungsprüfungen absolvieren! Und dann und wann küssen sie sogar Froschkönige. Von sich aus. Täter des Schicksals! Warum siedelst du denn nicht in eine eigene Wohnung? Warum trittst denn du zu keinen Eignungsprüfungen an?
    »Das trifft sich ausgezeichnet! Ich liebe Philosophie!«, sage ich und biete Elfi an, die wichtigsten philosophischen Themen und Fragestellungen mit ihr zu besprechen. »Ruf mich einfach einmal an. Dann verabreden wir uns in einem Kaffeehaus, wo es ruhiger ist und man sprechen kann! Nur möglichst nicht am Vormittag, bitte!« – »Fein!«, sagt Elfi und lächelt das schönste Lächeln der Welt. Und ist auch schon wieder im Gewühl verschwunden.
    Erich will wissen, wer das Mädchen gewesen ist. Nach Zappa jetzt Janis Joplin. Plötzlich sehe ich Elfi wieder. Sie sitzt in einer großen Runde an einem Tisch ganz hinten. Der Bursche neben ihr hat seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Ein Bier. Zwei Bier. Drei Bier. Ach ja! Dabei: so schöne Augen! Ach ja! Freedom’s just another word for – geh hör mir auf! »Ich habe das Gefühl, dass heuer ganz sicher noch etwas passieren wird«, lallt Erich – wir sind beim sechsten Bier –, »und mein Gefühl trügt mich nie. Etwas ganz Unvorstellbares! Etwas ganz Großes!«
    Im Roman, an dem Max arbeitet, passiert hingegen nichts, weder etwas Unvorstellbares, noch etwas ganz Großes. Seine Figuren haben zwar ständig das wehmütige Gefühl, während ihrer immer gleichen Tage etwas Unvorstellbares und Großes zu versäumen, aber sie wissen nicht, wo dieses Unvorstellbare, Große stattfindet, und sie wissen nicht, wie sie dort hingelangen könnten. Maxens Buchmenschen plätschern durch die Zeit, sie warten, hoffen, bangen, fühlen. Aber sie tun nichts, und es geschieht nichts mit ihnen. Sie träumen von der Zukunft. Sie denken an das, was kommen wird und kommen muss. Sie glauben an die Zukunft.
    Zukunft: Das ist mein Stichwort. Zukunft: Das bin ja ich. Doch gerade in dem Augenblick, als ich Janis Joplin leiser drehe (man versteht ja sein eigenes Wort nicht!) und mich an den jungen Mann, die jungen Männer wenden will, schreibt mir Marie Großholtz, und ich muss kurz unterbrechen.
    Otto hat schon wieder eine abgeschleppt, jetzt steht es zwei zu null, und das kam so: Ottos Vater ist Mitglied der Humanistischen Gesellschaft, die einen Lessing-Abend veranstaltet hat. Leider war der Vater aber verhindert und hat Otto die Eintrittskarte in die Hand gedrückt. »Tu was für deine Bildung!« Otto verdrehte die Augen. »Weißt du, was Lessing geschrieben hat, Bub? Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? Nein! Wir wollen weniger erhoben, doch häufiger gelesen sein!« Scheißklopstock, hat Otto gedacht, Scheißlessing. Und dann ist er hingegangen und hat immer wieder ein Gähnen unterdrücken müssen, als ein sehr berühmter Schauspieler aus dem Stadttheater aus  Emilia Galotti  gelesen hat. Aus Langeweile hat Otto das Lesungspublikum gemustert. Hauptsächlich ältere Jahrgänge, Kahlköpfe, Anzüge, weiße Perücken, nicht wirklich Personal für eine Revolution. Und dann sah Otto inmitten dieser humanistischen Gesellschaft plötzlich sie:
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