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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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wie einen Grenzdebilen, überlegt einen Augenblick und zieht ab. Erst viel später dämmert mir, wie viel Unheil mir meine Begriffsstutzigkeit erspart hat. »Was meinst du?«, spricht mich der Mechaniker neben mir im nächsten Augenblick unvermutet an. Ich weiß nicht, wovon er redet. »Heiraten, eine eigene Wohnung einrichten, Kinder bekommen: Das ist das wahre Leben!«
    »Na ja, wenn man im richtigen Alter ist …«
    »Aber was! Richtiges Alter!«, schimpft der Mechaniker, als hätte ich ihn aufs Gröbste beflegelt oder beleidigt, »was tun wir denn hier? Ich sage dir: Für ein Kind würde ich jedes Opfer bringen! Jedes! Da würde ich nicht mehr stumpfsinnig in den Spelunken herumhängen und wie ein Vollidiot mein letztes Geld versaufen!« Zum ersten Mal hat jemand in meiner Gegenwart das Jazz  Spelunke  genannt, noch dazu offenbar einer aus dem inneren Zirkel. So kann man es auch sehen. »Ein Kind bringt erst Sinn ins Leben!«
    »Warum das?«, will ich wissen.
    Der Mechaniker presst den Zeigefinger gegen den Daumen, streckt die anderen Finger von sich und schaut mich von unten herauf schief an, fassungslos, dass jemand eine so dumme Frage überhaupt stellen kann. »Willst du keine Kinder haben? Was wäre denn, wenn du keine Kinder hast, und deine Kinder keine Kinder haben, und ich keine und die Leute da nicht und überhaupt niemand? Wo kommen wir denn da hin? Das Ende der Menschheit! Prost! So ein dummes Gerede! Das ist doch der Sinn des Lebens, dass sich die Menschen fortpflanzen. Der Mensch muss sich fortpflanzen, sonst hat er auf der Erde nichts verloren! Ich sage dir: Du wirst einen guten Ratschlag auch noch zu schätzen wissen!«, sagt der Mechaniker, wankt in die Balanka-Kammer, zückt zwei Schilling und fordert den Asterix. Die Friseuse schaut ins Nichts.
    Jedes Jahr im Frühjahr findet irgendwo in Europa ein großer Chansonwettbewerb statt, ein Sängerstreit, zu dem alle westlichen Nationen ihre begabtesten und schönsten Musikerinnen und Musiker entsenden. Hallo, hallo!  Westlich!  Das erste politische Wort deines Œuvres überhaupt, junger Herr Froschkönig!
    Jedes Jahr rümpfen Musikexperten die Nase und bekritteln die Niveaulosigkeit des Grand Prix Eurovision de la Chanson. Einmal im Jahr darf man sich in euphorischer Frühlingslaune musikalische Wertlosigkeit aber ungeniert gefallen lassen. Ich habe mir frühzeitig Informationen über Lieder und Interpreten besorgt und kenne Gesichter, Melodien und Refrains schon Wochen vor dem großen Abend. Heuer heißen meine Favoriten Luxemburg und Italien. Die Luxemburgerin ist ein süßes Mäderl, die Italienerin aber eine Göttin! Die vollkommene Frau! Die Göttin heißt Alice, tritt gemeinsam mit ihrem Butler Franco Battiato auf und singt  I Treni di Tozeur.
    Am großen Tag kribbelt es seit dem Vormittag im Bauch, und abends herrscht im Wohnzimmer Länderspielstimmung. Die kleine Luxemburgerin quietscht leider wie ein Gummientchen in der Badewanne. Alice hingegen bleibt auch live eine Göttin! Freude, schöne Göttin im Funk, Tochter aus Elysium! Welche Anmut! Welche Würde! Welche Grazie, welche Grandezza! Was für eine Weltkehle! Tosender Applaus, nachdem der letzte Ton verklungen ist. Die schönste aller Italienerinnen verneigt sich mit einem scheuen Lächeln und verschwindet hinter der Bühne und aus dem Bildschirm. Ich werde sie heiraten: Das steht fest. Den tosenden Applaus bekommen allerdings die Künstler aller Nationen. Dann folgen die spannendsten Augenblicke, die Wertung. Man lernt, wie die Zahlen eins bis zwölf sowie die europäischen Nationen auf Englisch und Französisch heißen. Zunächst geht tatsächlich Italien in Führung (Italy: twelve points, na eben!). Aber nach der vierten Nationenwertung wendet sich das Blatt, und schließlich gewinnen drei blonde Schweden in Jogginganzügen mit einem Singsang, mit dem verglichen  Alle meine Entchen  eine Wagneroper ist! Nicht einmal die kühnsten Optimisten, die Schweden, hatten auf einen schwedischen Sieg gesetzt! Die Göttin wird vierte. Vulgus mobile, dea mea, das wankelmütige Volk! Es geht abwärts mit Europa, und ich nehme mir ganz fest vor, diesen abgeschmackten Liederwettbewerb nie, nie, nie wieder anzuschauen.
    Unser junger Held schaut auf die Uhr, stellt fest, dass es noch gar nicht so spät ist, noch vor Mitternacht, und weil die Nacht noch so jung ist, beschließt er, ins Jazz zu fahren und etwas zu trinken, um die dummen Schunkelschweden zu vergessen. Er kommt in einer Runde zu
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