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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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allem dunkle. Du hast – für dich selbst – trotzdem oft und oft Antworten probiert. Im Lauf deines Lebens wurden die Antworten auf deine Frage immer ernster. Aber ich will nicht vorgreifen. Beim ersten Mal ist dir noch keine Antwort eingefallen, aber zumindest hast du vor deinem geistigen Auge schon damals die Zeitungsschlagzeile gesehen, die eines Tages, eines Todestages deinen Nachruf übertiteln sollte:  ERSTMALS MEISTER VOM HIMMEL GEFALLEN!
    So, liebe Frau Großholtz, jetzt wissen Sie alles über mich, und ich müsste eigentlich gar nicht weitererzählen. Aber der junge Mann kann sich einige Antworten noch nicht erklären. Gehen wir behutsam mit ihm um.
    Max und ich spazieren an der Seepromenade. »Eine Zeit der Hoffnung ist angebrochen«, sagt Max, obwohl die Bäume noch schwarz und kahl sind. Max schreibt jetzt seinen ersten großen Roman. Erich ist zu Hause geblieben, er putzt sein Auto. Für ihn hat der Frühling schon begonnen. Max hat sich einen Bart wachsen lassen, die Frosttracht, ausgerechnet jetzt. Das Strandcafé ist seit Allerheiligen verbarrikadiert. Noch einige Wochen bis Ostern. Das Strandbad öffnet erst am Muttertag, das ist noch eine Ewigkeit. Wir setzen uns in unseren offenen Mänteln auf eine Parkbank, rauchen und schauen den Pensionisten beim Schwänefüttern zu. Wildes Gewusel, lautes Geschnatter. Schwäne tauchen mit dem Kopf ins Wasser. Noch schwimmt eine Eisschicht am See, darauf steht weit draußen völlig regungslos eine Ente, wie tot. Nein, tot nicht. Dann wäre sie umgefallen. Sie blickt ganz starr in eine Richtung, wo nichts passiert und wo es nichts zu sehen gibt. Minutenlang nicht die kleinste Bewegung. Wir versuchen, die Ente zu imitieren, aber wir schaffen es nicht. Max sieht jede Szene seines Lebens als literarische Kapitalanlage, auch diese jetzt. Die Sonne sinkt. Aber nicht mehr lange.
    Was noch? Nachts Nebel in der Stadt, am Tag teppichklopfende Frauen und Kinder, die im Hinterhof tollen. Die jungen Männer sitzen im Kaffeehaus, schmachten die nackten Beine der Kellnerin an und studieren die Kontaktanzeigen in der Zeitung. Am Samstagnachmittag spielt die Austria im Stadion, in der Pause kann man sich auch als Stehplatzbesucher mit dem Frankfurter Würstel in der Hand auf die Sitzplatztribüne schwindeln. Erich und ich haben die Mantelkrägen hochgeschlagen, wie wir es aus Fellinis  I Vitelloni  kennen, und schauen schweigsam zu. Otto gestikuliert und schimpft. Er lebt auch äußerlich mit, wir nur innerlich. »Wenn alle so dächten wir ihr«, mokiert sich Otto, wären wir nicht im Stadion, »sondern im Leichenschauhaus.« »Wenn alle so dächten wie du«, kontert Max, »wären vielleicht nur ein paar im Leichenschauhaus, die aber wirklich.« Und wie bei jedem Spiel referiert Max in der Schlussviertelstunde  Masse und Macht  von Elias Canetti. Trotzdem besiegt die Austria den Wiener Sportklub 6 : 0. Die Abstiegsgefahr ist vorübergehend gebannt. Kann es bessere Nachmittage geben?
    Na, ich blättere einmal weiter.
    Das Jazz ist gerammelt voll. Hier in der Vorstadt sind wir noch nie gewesen und suchen vom Kneipeneingang aus mit Blicken vergeblich irgendwelche Bekannte. Die schummrige Beleuchtung lässt nur eine schemenhafte Menschenmasse erkennen. Die Figuren scheinen zum Inventar zu gehören. Alles plaudert, alles fließt, alles trinkt, alles raucht, derbes Lachen, schlechte Luft, ich möchte gleich wieder gehen. Bei vielen hier sind nicht nur die Zähne Ruinen, sondern die ganzen Gesichter. Sie tragen ihr Leben im Gesicht, und es kann kein gutes Leben sein. Flüchtlingslager!, denke ich und versuche, Erich zum Umdrehen zu bewegen, da kommt ein Flüchtling und fragt mich, ob ich ihm Kleingeld für den Erdnussautomaten wechseln könne. Kann ich. Danke, Alter. Ich bin nicht alt. »Es ist spät«, sagt Erich, »es hat sonst nichts mehr offen. Ich mag noch nicht nach Hause. Zu Hause ist die Vergangenheit!«
    Zwei Kellnerinnen balancieren quermenschein durch die Masse, das Tablett in Kopfhöhe gestemmt, das ist Schwerstarbeit, das sieht man, das ist Zirkusakrobatik. Zur Theke drängen Leute, um ihr Bier zu holen, ein paar Auserwählte haben die Barhocker okkupiert. Ein Thekengast trinkt ein Gläschen Samos, und das trinken wir jetzt auch. Und noch eines. Nach den Doors legt der Wirt Frank Zappa auf.  I tell all the girls they can kiss my Heinrich mir graut vor dir …  Es gibt nicht viel zu sagen, deswegen suche ich den Erdnussautomaten, dazu muss auch ich mich durch die
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