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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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eine der beiden mächtigen Tannen war bereits gefällt, die zweite eben Schnitt für Schnitt im Fällen begriffen. Der Holzfäller in der Krankanzel trennte mit seiner heulenden Motorsäge unten, zu ebener Erde beginnend und sich immer weiter hinauf zum Wipfel hieven lassend, die mächtigen Äste vom mächtigen Stamm, aus immer luftigerer Höhe krachten sie zu Boden, auf das Grab und seine Umgebung: Ein Holzhaufen entstand. Genauso würde er anschließend den zur Lanze entblößten Stamm beseitigen, nur nun von oben nach unten, Schnitt für Schnitt und Stück für Stück, bis kein Wipfel und kein Hauch mehr vorhanden wären. Ob Vögelein und Käuze schwiegen oder riefen, ließ sich nicht feststellen, was immer sie vielleicht äußerten, wurde vom Motorsägengedröhn geschluckt. Und ich erkundigte mich bei den Friedhofsarbeitern auch nicht nach dem Grund des Holzfällens, nahm aber an, dass es sich dabei um keine testamentarische Verfügung Frau Oberluggauers handeln konnte, sondern dass das Wurzelwerk der beiden riesigen Grabtannen beim Ausschaufeln von Frau Oberluggauers Grab damals vor ihrer Beerdigung derartigen Schaden genommen haben musste, dass es den Bäumen keine Nährstoffe des Bodens mehr zuführen konnte und die dadurch verurteilt waren, abzusterben und zugrunde zu gehen (womit also Frau Oberluggauer anlässlich ihres Begräbnisses sozusagen noch ihr eigenes Grab mit in den Tod gerissen hätte), oder dass das Erdreich durch seine Bearbeitung und Umgestaltung, also durch Hinzufügung von Sarg und Leiche, so gelockert worden ist, dass die beiden uralten Giganten in keinem festen Grund und Boden mehr wurzelten, umsturzgefährdet waren und so eine Lebensgefährdung aller lebenden Trauernden, Hinterbliebenen, Friedhofsbesucher darstellten. Frau Oberluggauers Grab und seine Umgebung sahen vor lauter ineinandersteckenden und übereinandergeschichteten Tannenästen wie die Mistinseln nach den Weihnachtsfeiertagen aus, und auch der Weg zum Vater war mir durch das Dickicht des gigantischen Holzhaufens verstellt, als hätten die Friedhofsgärtner genau auf diesen einen Tag gewartet, damit ich das finale Schauspiel, das sie mir bieten, nicht versäumte und nach allen anderen auch diesen wirklich allerallerletzten Haufen noch besichtigen konnte. Immerhin würde es nun auch Frau Oberluggauer für den Rest des Totseins sonnig haben, sofern die Sonne durch die Wolken kam. Nur mit großer Mühe, pochenden Herzens und vor Anstrengung keuchend bahnte ich mir durch das Kleinholz den Weg, der einmal mein letzter Weg werden würde.
    Ich war aus dem Krankenhaus direkt zum Grab des Vaters gekommen, nicht nur, um eine Kerze für ihn anzuzünden, sondern um ihm von meinem Herzinfarkt und davon zu erzählen, dass die Ärzte mir die Zigaretten verboten haben. Noch am Leben hätte er mir wohl geantwortet, dass auch ihm seine Ärzte seine Zigaretten verboten hätten. Er habe seinen Willen, so lange er Herr seines Willens und seines Geistes war, also sein ganzes Leben lang bis auf die letzten zwölf Tage vor dem Tod, weder beugen noch biegen noch brechen lassen. Trotzdem sei er doppelt so alt geworden, wie ich jetzt war. Und auch älter als die meisten Ärzte, die ihm das Rauchen verbieten wollten. Aber, dachte ich am Grab, Papa hätte sich in seiner Liebe zu mir auch die schrecklichsten Sorgen gemacht. Meine Leidensgeschichte hätte seinem eigenen altersschwachen, infarktruinierten Herzen schweren Schaden zugefügt, und daher entschloss ich mich, Papa meine Passion zu verheimlichen. Und wie ich am Grab des Vaters mit der Kerze in der Hand so hin und her dachte und auf einmal selbst wieder die beängstigende Herzenge, diesen plötzlich durch den Brustkorb zuckenden Schmerz spürte, da bemerkte ich plötzlich, wie vor meinen Augen die Buchstaben des Namens des Vaters auf seinem Grabstein zu verschwimmen begannen und wie vor meinem geistigen Auge wie in einer Filmblende alles verschwand und versank, in dessen Hände ich meinen Geist noch hätte befehlen können.
    Als ich mein Auftragswerk, die Passion, die  Sieben letzten Worte  einen Monat später fertiggestellt hatte, liebe Frau Großholtz, war der geheimnisvolle Auftraggeber verschollen und wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste etwas über seinen Aufenthalt. Niemand wusste etwas von einem Auftrag, geschweige denn von einem Auftragshonorar. Oratorium? Was für ein Oratorium? Kommentare? Was für Kommentare? Passion? Was für eine Passion? Aufführung? Niemand wusste etwas von
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