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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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können, als ich auf Zigarettenschachteln jemals welche gelesen habe. Weise ich die Ärzte darauf hin, zucken sie mit den Schultern und sagen: Trotzdem …; Herr, richte sie, denn sie wissen nicht, was sie tun! Mein allerletzter Ungehorsam ist der, dass ich die Psychopharmaka im Klo hinunterspüle …
    Nach Hause gekommen, lege ich mich hin und bleibe liegen, einen halben Tag, einen Tag, manchmal zwei: Ich will nicht mehr weiter. Ich möchte aufgeben. Ich möchte mich loswerden, so wie ich jetzt bin. Ja, ich könnte mich einem Gesprächstherapeuten anvertrauen, einer Analyse unterziehen, und wir würden nach und nach in mühsamer ebenso wie schmerzvoller Kleinarbeit eine Verletzung nach der anderen und bis zum Lebensanfang zurückreichende, längst verschüttete und vernarbte Wunden aufdecken und bloßlegen und aufreißen und aufplatzen lassen. Aber wir würden die Wunden dadurch nicht heilen, und selbst wenn die Wunden heilten, würde ich trotzdem weiterrauchen wollen und widrigenfalls an meinem gebrochenen und tatsächlich auch von außen zerbrochenen Willen verzweifeln. Alle Neurotiker, die ich kenne, sind nach ihrer Therapie noch neurotischer gewesen als vorher, die Maniker noch manischer als vor der Analyse, die Depressiven und Desperaten noch depressiver und desperater als vor der Familienaufstellung, die Nymphomaninnen noch nymphomanischer, die Phobiker noch phobischer. Es wird nichts besser. Ein Vermögen wandert im Lauf der Zeit vom Patienten zum Therapeuten, das ist alles. Freud war ein großer Kulturphilosoph, und die Welt verdankt ihm so herrliche Wortschöpfungen wie »Über-Ich« und »Triebverzicht« und »Penisneid«. Große Kunst! Aber als Arzt ist er eine lächerliche Figur. Und ohne Drogen wäre ihm wohl auch die Kulturphilosophie nicht geglückt. Wenn der Wille stärker ist als die Triebe, kann man eine Sucht im Griff haben für eine unbestimmte Zeit. Aber nicht eine einzige Sucht ist jemals geheilt worden. Nichts, was jemals geheilt worden ist, kann vorher eine Sucht gewesen sein. Ob man ihr nachgibt oder nicht: Die Sucht selbst bleibt bis zum Tod: Schon insofern ist jede Sucht tödlich. Aber noch selten ist etwas wirklich Großes ohne das Zutun einer Sucht erschaffen worden. Sag es meinen Kindern nicht und nicht Emma und allen, die mir wünschen, ich möge doppelt so alt mit meinem halben Leben werden, aber ach, junger Mann, wie ich nach einer Überdosis lechze! Ich bin auferstanden, aber in das, was für mich Hölle ist: mein vor mir liegendes, unbelebtes, unbetretbares Leben. Ich weiß, ich weiß, man darf nicht undankbar und ungehalten und unbescheiden sein: Es gibt viel schlimmere Höllen als meine, viel schwerere Kreuze zu tragen. Aber mich dürstet, und alle Antworten auf meinen Lebensdurst sind Essig.
    Bei mir ist alles auf den Kopf gestellt, oder:
    Es ist vollbracht (6. Wort)
    Ich war gestorben. Ich war tot. Jan Philipp Möller war tot. Am dritten Tag erstand ich in der Intensivstation auf von den Scheintoten. Aber ich war nicht mehr ich. Ich war ein anderer geworden, als ich einmal einer gewesen war. Das wollte ich nicht. Alles in mir sträubte sich dagegen. Ich war entsetzt. Ich wollte niemals ein anderer werden als ich einmal einer gewesen war. Ich war gebrochen. Ich war weggebrochen von mir. Ich war ein Untoter. Ein Toter lag neben mir. Neben mir lag der Leichnam eines renitenten jungen Mannes. In meinem Bett lag der Leichnam eines schüchternen jungen Romantikers, eines aufstrebenden Schriftstellers und Dramatikers. Ein Ekstatiker und Enthusiast, ein eigenwilliger Querkopf und Bohemien lag tot neben mir und ließ mir keinen Platz; einer, der sich niemals und nirgendwo an vorgeschriebene Grenzen, Regeln, Gesetze halten wollte – nicht einmal jetzt. Ich rüttelte und schüttelte den mündigen Staatsbürger neben mir. Aber es war jedes Leben aus ihm gewichen. Ich ließ ihn los, und er sackte in sich zusammen. Ein Narziss und Egomane, eine Diva, ein schlampiges Genie, ein Hasardeur und Draufgänger lag tot neben mir. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt.
    Rossini schwieg. Mozart schwieg. Gianna Nannini schwieg. Die Fahne am Volkstheater wehte auf Halbmast, ebenso die am einen oder anderen Goetheinstitut. Ivanisevic beendete seine Karriere. Agassi fielen die Haare aus. Tabakbauern begingen Serienselbstmorde. Mein Vater drehte sich im Grab um. Die Wahlzelle stürzte ein. Jeanne-Claude und Christo boten sich an, meine ganze Heimatstadt schwarz einzupacken. Der Bürgermeister, dem
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