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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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Lungenabteilung; es ist zu warm, es stinkt nach Nachtschweiß und man hat dort immer ein schlechtes Gewissen, auch als Neunichtraucher. Wie schnell ist man infiziert und moribund und unheilbar. Ich hätte nach der Raucherambulanz also eigens fragen müssen, aber bevor ich eventuell ein Anhusten, Anröcheln, Ankotzen zur Antwort bekomme, gehe ich lieber. Es wäre psychologisch schon viel gewonnen, wenn man die Raucherambulanz im Extrazimmer eines Kaffeehauses einrichtete.
    Am zweihundertfünfundvierzigsten Tag notierte ich: Insgeheim möchte ich noch immer am liebsten auf der Stelle tot umfallen an jedem Tag, der damit beginnt, dass ich mir keine Zigarette anzünden darf.
    Mir ist nach Schweigen zumute. Nur kann ich mir Schweigen ganz einfach nicht leisten. Kunst ist immer ein Teufelspakt. Mir ist jetzt aber die außergewöhnliche Geschichte passiert, dass der Teufel meine gerade erst angekaute Seele wieder ausgepuckt, den Teufelspakt von sich aus einseitig aufgekündigt, mir die Zigarette aus dem Mund gezogen und sich von mir mit der allergrößten Gemeinheit, zu der er imstande ist, verabschiedet hat, indem er mich nämlich quasi über Nacht in einen ganz öden, völlig witzlosen und einfallslosen Menschen verwandelt hat.
    Am zweihundertzweiundfünfzigsten Tag: Kaum setze ich mich an den Schreibtisch, überfällt mich Elend. Eine große Sinnlosigkeit umgibt mich. Es gibt auch nach zweihundertzweiundfünfzig Tagen nicht den geringsten Fortschritt im Nichtrauchen und Nichtleben – eher noch tagtägliche kleine Rückschritte tiefer hinein in die Frustration und Lebensunfähigkeit: Als könnte etwas Leeres wie ich noch leerer werden.
    Auch der Satz ist heute wieder in mir gewesen: Hoffentlich sterbe ich bald. Und hoffentlich merke ich es nicht. Vielleicht eine Koketterie. Ich weiß nicht. Bei jedem Atemzug ein Hohlraum. Dass die anderen Menschen unter ihren Hohlräumen nicht leiden!
    Es geht mir gut, aber es gibt mich nicht. Existieren ist schlecht sein. Wo immer ich Hilfe gesucht habe, habe ich bloß Hilflosigkeit gefunden: freundliche Hilflosigkeit oder arrogante Hilflosigkeit, aber immer Hilflosigkeit, strotzende Hilflosigkeit. Ich bin ein anderer, als ich einmal einer gewesen bin. Das hab ich jetzt davon.
    Wo ist der Arzt, der mit mir bangt und sich jeden Tag aufs Neue die Frage stellt: Hat er seine Sucht nun überwunden? Schafft er es, wieder zu schreiben? Sind Kreativität, Übermut, Tollkühnheit und Aberwitz in seinen Geist zurückgekehrt? Ist er nun in der Lage, ein ihm gemäßes Leben als Nichtraucher zu führen?
    Wo ist der Arzt, den ich jeden Tag aufs Neue enttäuschen darf: Leider nicht, Herr Doktor! Mir geht es genauso schlecht wie gestern. Und vorgestern. Ihre Prognosen bezüglich Entzugsdauer, Entzugsende und Gewöhnung stellen sich immer deutlicher als fundamental falsch heraus, Herr Doktor. Es geht nicht! Es geht so einfach nicht. Es geht nie und nimmer.
    Wo ist er? Woooooooo?
    Am zweihundertdreiundsiebzigsten Tag habe ich notiert: Zum zweihundertdreiundsiebzigsten Mal mundnackt am Schreibtisch, zum zweihundertdreiundsiebzigsten Mal mundnackt auf der Straße: Werde ich mich jemals daran gewöhnen, so obszön zu sein?
    Seit ich nicht mehr rauche, bin ich nicht mehr der Held meines Romans, meines Lebensromans.  Salamanca  war der letzte filmreife Auftritt, dann nichts mehr.
    Wo bist du, Exzess? Und du, Ekstase? Vater Exzess, Mutter Ekstase, warum habt ihr mich verlassen? Ich werd zum Augenblicke sagen: Es ist vollbracht. Nie zitiere ich korrekt, nie funktioniere ich korrekt. In mir ist alles umgedreht und auf den Kopf gestellt. Ich werde nicht sterben. Ich werde ausgetötet werden.
    »Habe ich deshalb von der Zigarette niemals lassen können, weil ich alle Schuld an meiner Unfähigkeit ihr zuschrieb? Wäre ich wirklich der ideale, lebenstüchtige Mensch geworden, wenn ich das Rauchen aufgegeben hätte? Vielleicht hat mich gerade dieser Zweifel an mein Laster gefesselt?«, fragt sich Svevos letzte Hauptfigur Zeno Cosini. Weil er es bis zum Lebensschluss bekanntlich nicht geschafft hat, das Rauchen für länger als allerhöchstens ein paar Stunden bleiben zu lassen, hat Svevo sich keine Antwort geben können: Er hat sich die Antwort erspart.
    Wie oft habe ich selbst mir diese Frage in den dreißig Jahren des Rauchens gestellt! Und jetzt – nichtrauchend – ist die vielleicht allerletzte Illusion meines Lebens auch noch zusammengebrochen: Es ist nichts mit dem idealen, lebenstüchtigen, starken
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