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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk
Autoren: T.C. Boyle
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EINS
    Sie war spät dran, sie war immer spät dran, es war einer ihrer Fehler, das wußte sie, aber dann konnte sie ihre Handtasche nicht finden, und als sie sie endlich gefunden hatte (am Garderobenständer im Flur, unter der dunkelblauen Kordjacke), mußte sie die Schlüssel suchen. Die hätten in der Tasche sein sollen, aber da waren sie nicht, und so drehte sie eine Runde durch die ganze Wohnung –zwei Runden, drei –, bevor sie auf den Gedanken kam, in den Taschen der Jeans nachzusehen, die sie gestern getragen hatte, aber wo war die ? Keine Zeit für Toast. Kein Toast, kein Frühstück. Sie hatte keinen Orangensaft mehr. Keine Butter, keinen Frischkäse. Die Zeitung auf der Fußmatte war nur ein weiteres Hindernis. Pißwarmer – war das ein angemessenes Wort? Ja! – pißwarmer Kaffee aus einem fleckigen Becher, eine kurze Überprüfung von Frisur und Lippenstift im Rückspiegel, und dann ließ sie den Wagen an und setzte zurück auf die Straße.
    Ein Lieferwagen kam ihr entgegen, und vielleicht hinterließ er einen flüchtigen Eindruck, ebenso wie der Hund, der an einem dunklen Fleck auf dem Bürgersteig schnupperte, oder ein Rasensprenger, der das Licht in einem Schimmern aus durchscheinenden Perlen einfing, doch das unaufhörliche Vibrieren des Adrenalins – vielleicht waren es auch die Nerven oder sonst irgendwas – ließ nicht zu, daß sie das alles wirklich wahrnahm. Außerdem blendete sie die Sonne – wo war ihre Sonnenbrille? Sie hatte sie doch noch auf dem Schreibtisch gesehen, mitten in einem Durcheinander aus Halsketten und Ohrringen – oder auf dem Küchentisch, neben den Bananen, und sie hatte noch überlegt, ob sie eine Banane mitnehmen sollte, Fast food, Kalium, Kohlehydrate, hatte dann aber doch keine eingesteckt, denn bei Dr. Stroud war es besser, gar nichts im Magen zu haben. Luft. Luft allein würde genügen.
    Losstürzen, sich hetzen, sich aufreiben – Wörter mit germanischen Wurzeln und dieser traurigen Konnotation. Sie dachte nicht klar. Sie war gestreßt, sie war übermäßig gestreßt, sie war spät dran. Aber als sie am Ende des Blocks an die Kreuzung mit dem Stoppschild kam, hatte sie das Gefühl, doch noch ein bißchen Glück zu haben, denn es war niemand in Sicht, für den sie hätte halten müssen – doch als sie tat, als würde sie bremsen, mit einem routinierten Tippen aufs Gas in den zweiten Gang hinunterschaltete und über die Kreuzung fuhr, sah sie den parkenden Streifenwagen im dunkelvioletten Schatten eines Geländewagens.
    Für einen Augenblick stand die Zeit still. Der Polizist saß starr am Steuer seines Wagens, sie warf ihm einen hilflos entschuldigenden Blick zu, und dann war sie auch schon an ihm vorbei und verfluchte sich selbst, als sie sah, daß er träge wendete und die Blinklichter auf dem Dach einschaltete. Mit einemmal nahm sie die Welt als Ganzes wahr: die Palmen mit ihren Ananasstämmen und den sich abschälenden Röcken, die stachlig aufragenden Yuccas, die sich die Hügelflanke hinaufarbeiteten, gelbe Felsen, rote Felsen, einen anthrazitgrauen Pick-up, dessen Fahrer langsamer fuhr, um ihr einen neugierigen Blick zuzuwerfen – sie hatte inzwischen auf dem erdbraunen Seitenstreifen gehalten –, rechts unterhalb von ihr war der Hang mit den Ziegeldächern, in der Ferne die blaue Verheißung des Pazifiks. Keine Eile jetzt, überhaupt keine Eile mehr. Sie sah im Außenspiegel, wie der Polizist seine Tür öffnete, den Gürtel hochzog (das taten sie alle, als wäre dieser Gürtel mit dem Reizgasspray, den Handschellen und dem harten schwarzen Revolver die einzig nötige Legitimation) und mit steifen Schritten zu ihrem Wagen kam.
    Sie hatte Führerschein und Zulassung in der Hand und bot sie ihm dar wie eine Opfergabe, doch er nahm sie nicht, noch nicht. Er sagte etwas, sein Kiefer bewegte sich, als kaute er auf einem Stück Knorpel, aber was sagte er? Es war nicht Führerschein und Fahrzeugpapiere , aber was war es dann? Ist das da oben die Sonne? Was ist die Wurzel aus hundertvierundvierzig? Wissen Sie, warum ich Sie angehalten habe? Ja, das war es. Und sie wußte es. Sie hatte ein Stoppschild nicht beachtet. Weil sie so in Eile war – in Eile, zum Zahnarzt zu kommen, ausgerechnet – und weil sie spät dran war.
    »Ich weiß«, sagte sie, »ich weiß, aber... aber ich hab runtergeschaltet...«
    Er war jung, dieser Polizist, nicht älter als sie, ein Gleichaltriger, ihre Generation, im Velvet Jones oder in einem anderen Club an der State Street hätte
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