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Absturz

Absturz

Titel: Absturz
Autoren: Gstaettner
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Gertraut! In der Pause hat sich Otto gleich zu dem Aschenbecher gestellt, bei dem auch sie gestanden ist. Rauchen verbindet. Beim Rauchen kommen die Leute zusammen. Gertraut! Ihr Lieblingsschriftsteller ist nicht Lessing, sondern Horváth, und ihr Lieblingsbuch heißt  Die stille Revolution . »Stille Revolution – genial!«, ruft Otto. Angeblich geht es da um ein verwunschenes Schloss. Gertraut hat Otto vom Soldaten erzählt, der auf den Rummelplatz kommt, wie er die wächserne junge Frau an der Kassa sieht, wie traurig sie ausschaut, wie er ein Eis schleckt und ihr Profil mustert, wie sie lächelt und was für schöne Zähne und was für schöne Brüste sie hat! Wie er eine Karte beim verwunschenen Schloss löst, wie er sich drinnen seinen Fuß verstaucht und wie er die Beine des Mädchens umarmt, aber unterm Rock, versteht sich, wie er ihr einen Kuss gibt oberhalb des Strumpfes und wie sie sich gar nicht dagegen wehrt. Damals haben die Mädchen ja noch Strümpfe getragen! Damals war das ganz normal. Damals gab es diese Nylonstrumpfhosen noch nicht, die die Mädchen so praktisch und die Jungen so unpraktisch finden! Ob Gertraut wohl Strumpfhosen oder Strümpfe trägt? Das ist eine der vielen brisanten Fragen, die Otto heute Abend …
    »Ach komm, Otto, hör auf! Das interessiert doch niemanden!«
    »Ihr seid ja bloß neidisch!«
    Mag sein. Spannend ist auf jeden Fall der erste Blick, wenn man das Jazz betritt: Wer sitzt an den Tischen? Wer steht an der Theke? Ist Elfi da? Andere Bekannte? Überraschungsgäste? Auch noch einen Blick in den kleinen Nebenraum werfen, wo der Tischfußballtisch steht, der hier Balanka-Tisch heißt. Der Sieger bleibt am Tisch. Man kann ihn herausfordern, indem man zwei Schillingmünzen auf die Platte legt. Der beste Balanka-Spieler heißt Asterix, weil er so ausschaut, nur ohne Helm. Die Zähne von Asterix sind nicht viel schöner als meine. Er raucht selbst gedrehte Zigaretten. Asterix redet wenig und trinkt viel. Nach dem dritten großen Bier wird seine Stürmerhand ruhig und Asterix unschlagbar. Ein Superhaken. »Zaubertrank«, erklärt er, und damit hat er auch schon wieder genug gesprochen.
    Vielleicht ist es ein Fehler, wochentags und noch dazu so spät ins  Jazz  zu fahren. Es sind nur wenige Menschen da, nur das Inventar. Was soll man mit denen reden? Ich kenne ja auch keinen. Zum ersten Mal, seit ich hierher komme, sind mehr als die Hälfte der Tische leer. Ich stelle mich trotzdem an die Theke. Könnte ja wer kommen. Kommt aber keiner. »Na bitte, dann trinke ich eben ein Bier und gehe wieder.« Neben mir lehnt ein vielleicht dreißigjähriger Mann mit einem Ausschlag im Gesicht, gelernter Kraftfahrzeugsmechaniker, wie er sagt, jetzt aber schon seit Monaten arbeitslos: Das erzählt er dem kleinen, schwarzhaarigen Mädchen neben sich, sicher zehn Jahre jünger, eine Friseuse, ebenfalls ohne Arbeit. Irmi legt Deep Purple auf, Ella Fitzgerald und Al Jarreau. Janis Joplin spielt sie heute nicht. Die Tür geht nur selten auf, Unbekannte schauen herein. Die meisten drehen nach einem prüfenden Blick gleich wieder um. Deep Purple zum Trotz hört man dann und wann die harte Balanka-Kugel an die Holzbande krachen.
    Der Mann erzählt dem Mädchen von seiner Militärzeit.
    Das Bundesheer, junger Mann! Das Problem wirst du auch noch lösen müssen!
    War hart, sagt der Mann, aber er habe viel gelernt. Damals war irgendwie noch alles in Ordnung. Jeden Morgen hat er gewusst, wofür er aufsteht. Ohne lang nachzudenken. Er hätte überhaupt beim Heer bleiben sollen. Aber er war sich ja zu gut! Er hat ja auf niemanden gehört! Wenn man jung ist, glaubt man, man sei der Mittelpunkt der Welt und alles habe sich gefälligst um einen zu drehen. Man will sich nichts sagen lassen, auch wenn es noch so gut gemeint ist, und das ist ein schwerer Fehler! Bekäme er heute noch einmal einen guten Ratschlag, würde er ihn dankbar annehmen. Aber heute interessiert sich niemand mehr für ihn. Alle haben ihm den Rücken zugewendet. Das Mädchen nickt ständig, und das Nicken will sagen: Ja, das Leben ist eine Tortur! Ihr Blick ist glasig. An der Zigarette saugt sie, als käme Muttermilch heraus. Ich glaube nicht, dass die arbeitslose Friseuse dem arbeitslosen Mechaniker wirklich zuhört. Sie ist  daneben .
    Ein Typ klopft mir auf die Schulter und fragt mich, ob ich »etwas zum Rauchen« brauche. »Ich hab noch«, winke ich lächelnd ab und weise auf meine halb volle Packung Memphis. Der Typ schaut mich an
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