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Schattenkuss

Schattenkuss

Titel: Schattenkuss
Autoren: Inge Loehnig
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Prolog
    Die Nacht war warm und sternenklar. Über dem Dachfirst stand der Große Wagen. Ein voller Mond hing tief am Himmel, tauchte den Garten in silbriges Licht und ließ die Zaunlatten bizarre Schatten ins Gras werfen. Taufeucht streifte es ihre Knöchel. Weit entfernt begann ein Hund zu bellen. Sein Kläffen hallte durch den Ort und erstarb kurz darauf wieder. Die Kirchturmuhr schlug dreimal mit hellem Klang. Viertel vor vier. Bald würde es hell werden. Sie musste sich beeilen.
    Hastig schob sie die Schubkarre über die holprige Wiese. Der Spaten, der quer über den Griffen lag, schlug rumpelnd gegen das Blech. Erschrocken blieb sie stehen, lauschte. Als nirgends Licht anging und alles ruhig blieb, atmete sie durch, schob die Karre weiter, bis sie die Grube erreichte, setzte die Last ab und streckte den Rücken.
    Hier, in diesem Teil des Gartens, roch es nach Himbeeren und den süßen Walderdbeeren, die sie so gerne aß. Ihr zarter Duft ließ sie ein wenig entspannen, nahm ihr für einen Moment etwas von der Last, die sie niederdrückte.
    Warum tat sie das?
    Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn. Ihr blieb keine Wahl. Es gab zwar verschiedene Arten der Liebe, aber jede von ihnen war stärker als Vernunft.
    Sie straffte die Schultern, beobachtete das blonde Haar, das über den Rand der Schubkarre hing und nun im leichten Wind wehte, der den kommenden Tag ankündigte. Diese Bewegung erweckte für einen kurzen Moment den Eindruck von Leben. Doch das Mädchen war tot. Kalkweiß schimmerte sein Gesicht im Mondlicht, starrten Augen wie grüne Smaragde ins Firmament. Etwas Überraschtes spiegelte sich im erstorbenen Blick, als könnte das Mädchen nicht glauben, was geschehen war.
    Dieser Unschuldsblick machte sie wütend. Ein Miststück war sie gewesen. Ein Biest. Die Wut verlieh ihr Kraft und Entschlossenheit. Mit einem Ruck hob sie die Leiche hoch, schwankte mit der Last zur Grube und ließ sie fallen. Dumpf schlug der Körper unten auf. Einen Augenblick dachte sie daran, ein Gebet zu sprechen, ließ es dann aber bleiben. Noch immer zornig griff sie nach dem Spaten.
    Sie arbeitete, bis ihr Atem keuchend ging, bis die Wut ausgeschwitzt war und ihr der Schweiß übers Gesicht und als feuchtes Rinnsal zwischen den Brüsten hinablief.
    Als sie ihr Werk vollendet hatte, war die Haut an den Handflächen aufgerissen und blutig. Mit den Füßen trat sie die Erde fest und blickte auf. Ein heller Schimmer zeichnete sich am Horizont ab, kündigte einen strahlend schönen Sommertag an. Zuerst trug sie den Spaten zurück und räumte dann die Schubkarre auf. Bevor sie ging, warf sie einen letzten Blick auf das Grab.

1
    Lena saß auf dem nachtblauen Sitzsack in ihrem Zimmer und zoomte mit dem Camcorder das Poster heran, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Schwarzgrüner Wald mit leuchtendem Twilight- Schriftzug. Dahinter ergoss sich Sonnenlicht zwischen den Bäumen wie ein Wasserfall und beleuchtete zwei Figuren im Halbdunkel: Bella mit leicht geöffneten Lippen und über sie geneigt Edward Cullen alias Robert Pattinson.
    Eigentlich mochte Lena das Poster nicht besonders. Es lag an diesen küssenswerten Lippen und dem abschätzenden Blick, den Bella ihr zuwarf. Jedenfalls kam Lena das so vor. Als schien Bella das zu denken, was Jessica neulich ausgesprochen hatte. Diese Narbe ist voll eklig. Dich wird nie einer küssen. Lachend hatte sie sich bei Pat eingehakt und war mit ihr davongezogen.
    Glaubt doch, was ihr wollt, dachte Lena. Unwillkürlich ließ sie den Camcorder sinken und fuhr die Narbe mit dem Finger nach. Wie so häufig. Eine Wulst zog sich vom Kinn bis zur Unterlippe. Tom sagte, man sähe sie kaum noch. Klar, er war ihr Vater und fand seine Tochter natürlich schön.
    An den Unfall konnte sie sich kaum noch erinnern. Er war in der ersten Klasse passiert. Der Schulbus war ins Schleudern geraten und eine Böschung hinuntergestürzt. Dabei war Lena aus dem Fahrzeug geschleudert worden. Es gab tausend Sicherheitsvorschriften für Autos. Und Eltern, die ihre Kinder im falschen Kindersitz chauffierten oder nicht anschnallten, drohte ein Bußgeld. Aber für Schulbusse galt das alles nicht. Sie hatten nicht einmal Gurte. Ganz schön schizophren.
    Lena stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Die Narbe war hell und leicht geschwungen. Sie fühlte sich schlimmer an, als sie aussah, hart und wulstig. Mit Make-up ließ sie sich einigermaßen kaschieren. Trotzdem hatte Jessica mit ihrer gehässigen Bemerkung
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