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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo
Autoren: Anne Perry
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1
    John Evan stand frierend im Januarwind, der die schmale Gasse hinunterpeitschte. P. C. Shotts hielt seine Blendlaterne so hoch, daß die Männer beide Leichen gleichzeitig sehen konnten. Die Toten lagen zusammengekrümmt und blutverschmiert gut zwei Meter voneinander entfernt auf dem eisigen Pflaster.
    »Weiß irgend jemand, was passiert ist?« fragte Evan mit klappernden Zähnen.
    »Nein, Sir«, erwiderte Shotts düster. »Eine Frau hat sie gefunden, und der alte Briggs hat mir Bescheid gegeben.«
    Evan war überrascht. »In diesem Bezirk?« Er warf einen Blick auf die schmutzigen Mauern, den offenen Rinnstein, die wenigen, dreckgeschwärzten Fenster und schmalen, vom Ruß und der Feuchtigkeit vieler Jahre fleckig gewordenen Türen. Die einzige Laterne befand sich zwanzig Meter entfernt, wo sie einem verirrten Mond gleich boshaft funkelte. Evan war sich unangenehm der Bewegungen direkt außerhalb des Lichtkreises bewußt, der gebeugten Gestalten, die mit wachsamen Augen das Geschehen verfolgten und abwarteten, der zahllosen Bettler, Diebe und armen Seelen, die in diesem Elendsviertel von St. Giles nur einen Steinwurf von der Regent Street im Herzen Londons entfernt lebten.
    Evan beugte sich über den Körper, der ihm am nächsten lag. Shotts senkte die Laterne ein wenig, so daß sie den Kopf und Oberkörper der Leiche beleuchtete. Es handelte sich Evans Schätzung nach um einen Mann von Mitte Fünfzig. Sein Haar war grau und voll, seine Haut glatt. Evan berührte den Toten kurz – er war kalt und steif. Seine Augen standen immer noch offen. Der Mann war so übel zugerichtet worden, daß Evan nur einen sehr allgemeinen Eindruck von seinen Zügen gewinnen konnte. Zu Lebzeiten mochte er durchaus gutaussehend gewesen sein. Seine Kleider waren jetzt zwar zerrissen und schmutzig, aber ansonsten von hervorragender Qualität. Soweit Evan das beurteilen konnte, war der Mann von durchschnittlicher Größe und kräftigem Körperbau gewesen. So etwas ließ sich nicht leicht sagen, wenn ein Mensch zusammengekrümmt dalag, die Beine gespreizt und halb unter dem eigenen Körper begraben.
    »Wer hat ihm das angetan, um Gottes Willen?« fragte er kaum hörbar.
    »Keine Ahnung, Sir«, antwortete Shotts zittrig. »So was Schlimmes habe ich noch nie gesehen, nicht mal hier. Muß ein Irrer gewesen sein, das ist alles, was ich dazu sagen kann. Ist er bestohlen worden? Muß wohl.«
    Evan beugte sich über die Leiche, um in die Manteltasche des Mannes zu greifen. In der äußeren Tasche war nichts. In der inneren fand er ein Taschentuch, sauberes, zuammengefaltetes Leinen von erstklassiger Qualität. Er tastete die Hosentaschen ab und entdeckte einige Kupfermünzen.
    »Das Knopfloch ist ausgerissen«, bemerkte Shotts mit Blick auf die Weste. »Sieht so aus, als hätten sie ihm die Uhr mitsamt Kette abgerissen. Was der wohl hier zu suchen hatte? Bißchen rauhes Viertel für so einen feinen Herrn. Nur eine Meile weiter westlich gibt’s jede Menge Flittchen und andere willige Frauenzimmer. In Haymarket wimmelt’s nur so davon, und das ohne jede Gefahr. Man braucht bloß zuzugreifen. Weshalb also hierherkommen?«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte Evan. »Wenn wir den Grund dafür herausfinden können, wissen wir vielleicht, was ihm zugestoßen ist.« Er stand auf und trat an die andere Leiche. Es handelte sich um einen jüngeren Mann, vielleicht noch keine zwanzig, doch auch sein Gesicht war so furchtbar zugerichtet, daß nur die klare Linie seines Kiefers und die feine Beschaffenheit seiner Haut irgendwelche Rückschlüsse auf sein Alter zuließen. Mitleid und ein schrecklicher, blinder Zorn durchfluteten Evan, als er sah, daß die Kleidung am Unterkörper blutdurchnäßt war; das Blut sickerte immer noch auf die Pflastersteine.
    »Gott im Himmel«, sagte er heiser. »Was ist hier passiert, Shotts? Was ist das für ein Geschöpf, das so etwas tut?« Er rief den Namen Gottes nicht grundlos an. Schließlich war er der Sohn eines Landpfarrers und in einer kleinen, ländlichen Gemeinde aufgewachsen, in der jeder den anderen kannte, in Freud und Leid, und wo der Klang der Kirchenglocken über dem Herrenhaus ebenso erscholl wie über den Hütten der Knechte und dem Wirtshaus. Er kannte Glück und Leid, Güte und all die gewöhnlichen Sünden von Habgier bis Neid.
    Shotts, der in der Nähe dieses häßlichen, dunklen Londoner Elendsviertels groß geworden war, hatte wenig Mühe, das Vorgefallene zu begreifen, aber auch er blickte mit einem
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