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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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Prolog
    Nat, 30. September 2008
     
    Ein Mann sitzt auf einem Bett. Er ist mein Vater.
    Die Leiche einer Frau liegt unter der Decke. Sie war meine Mutter.
    Eigentlich beginnt die Geschichte nicht an diesem Punkt. Und sie endet auch nicht dort. Aber es ist der Moment, zu dem ich immer in Gedanken zurückkehre; der mir die beiden vor Augen führt.
    Nach dem, was mein Vater mir bald erzählen wird, war er fast dreiundzwanzig Stunden in dem Zimmer, nur unterbrochen von dem gelegentlichen Gang zur Toilette. Gestern erwachte er um halb sieben, wie meistens in der Woche, und sah, als er die Füße in die Pantoffeln schob und über die Schulter einen Blick auf meine Mutter warf, sofort die Veränderungen, die der Tod bringt. Er rüttelte sie an der Schulter, berührte ihre Lippen. Er drückte ihr ein paarmal mit dem Handballen aufs Brustbein, aber ihre Haut war kalt wie Lehm. Ihre Gliedmaßen bewegten sich alle in einem Stück wie bei einer Kleiderpuppe.
    Er wird mir erzählen, dass er sich dann ihr gegenüber in einen Sessel setzte. Er weinte nicht. Er dachte nach, wird er sagen. Er weiß nicht, wie lange er so dasaß, nur dass die Sonne sich einmal quer durch den Raum bewegt hatte, als er endlich aufstand und anfing, wie besessen aufzuräumen.
    Er wird sagen, dass er die drei oder vier Bücher, die sie stets gleichzeitig las, zurück ins Regal stellte. Er hängte die Kleidungsstücke auf, die sie immer gern auf dem Stuhl vor ihrem Frisierspiegel aufhäufte, und machte dann das Bett um sie herum, zog Laken und Federbett glatt und breitete die Tagesdecke ordentlich darüber, ehe er ihre Hände wie die einer Puppe auf die Satinfläche der Decke legte. Er entfernte zwei von den Blumen, die in der Vase auf ihrem Nachttisch verwelkt waren, und richtete die Papiere und Zeitschriften auf ihrem Schreibtisch gerade.
    Er wird mir erzählen, dass er niemanden anrief, nicht mal den Notarzt, weil er sich ganz sicher war, dass sie tot war, und nur eine einzeilige E-Mail an seine Assistentin schickte, um Bescheid zu geben, dass er nicht zur Arbeit kommen würde. Er ließ das Telefon mehrfach klingeln, ohne ranzugehen. Fast ein ganzer Tag wird vergangen sein, ehe ihm klar wird, dass er mich verständigen muss.
    Aber wie kann sie denn tot sein?, werde ich fragen. Gestern Abend, als wir zusammen waren, ging es ihr gut. Nach einem lastenden Moment werde ich zu meinem Vater sagen, Sie hat sich nicht umgebracht.
    Nein, wird er sofort bestätigen.
    In so einer Gemütslage war sie nicht.
    Es war ihr Herz, wird er dann sagen. Es muss ihr Herz gewesen sein. Und ihr Blutdruck. Dein Großvater ist auch so gestorben.
    Wirst du die Polizei verständigen?
    Die Polizei, wird er nach einem langen Moment sagen. Wieso soll ich die Polizei verständigen?
    Na, Herrgott, Dad. Du bist Richter. Macht man das nicht, wenn jemand so plötzlich stirbt? Inzwischen weinte ich. Ich wusste nicht, wann ich damit angefangen hatte.
    Ich wollte schon einen Bestatter anrufen, wird er sagen, aber dann hab ich mir gedacht, du willst sie vorher vielleicht sehen.
    Ja, Scheiße, ja, und ob ich sie sehen will.
    Das Bestattungsunternehmen wird uns raten, unseren Hausarzt einzuschalten, und der wiederum wird den Rechtsmediziner anrufen, der zunächst die Polizei schickt. Es wird ein langer Vormittag werden, und dann ein noch längerer Nachmittag, mit Dutzenden von Leuten, die im Haus ein und aus gehen. Der Rechtsmediziner wird erst nach fast sechs Stunden eintreffen. Er wird nur eine Minute allein bei der Leiche meiner Mutter sein, ehe er meinen Dad um die Erlaubnis bittet, ein Verzeichnis sämtlicher Medikamente erstellen zu lassen, die sie einnahm. Eine Stunde später werde ich am Badezimmer meiner Eltern vorbeikommen und einen Polizisten fassungslos vor dem offenen Arzneischrank stehen sehen, mit Block und Stift in der Hand.
    Meine Güte, wird er sagen.
    Bipolare Störung, werde ich ihm erklären, als er mich bemerkt. Sie musste jede Menge Tabletten nehmen. Letzten Endes wird er einfach die Fächer ausleeren und mit einem Müllbeutel voller Pillenfläschchen gehen.
    Derweil wird immer mal wieder ein anderer Polizist eintreffen und meinen Vater fragen, was passiert ist. Er erzählt die Geschichte wieder und wieder und immer haargenau gleich.
    Worüber hatten Sie denn die ganze Zeit nachzudenken?, wird ein Cop wissen wollen.
    Mein Dad kann mit seinen blauen Augen sehr eindringlich blicken, etwas, das er vermutlich von seinem eigenen Vater gelernt hat, den er verabscheute.
    Officer,
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