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Die schöne Ballerina (German Edition)

Die schöne Ballerina (German Edition)

Titel: Die schöne Ballerina (German Edition)
Autoren: Nora Roberts
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1. K APITEL
    Der Wind hatte die Luft abgekühlt. Er jagte dunkle Wolken vor sich her und pfiff durch die mitunter schon herbstlich verfärbten Blätter. Entlang der Straße zeigte sich mehr Gelb als Grün. Hier und da fielen vereinzelte Sonnenstrahlen auf flammendes Rot und leuchtendes Purpur. An diesem Nachmittag im September war zu spüren, dass der Sommer sich dem Ende zuneigte. Es wurde Herbst.
    Regen lag in der Luft. Lindsay beschleunigte ihre Schritte, um vor dem drohenden Unwetter nach Hause zu kommen. Ein Windstoß zerzauste ihr das Haar. Unwirsch wischte sie ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Eigentlich ging Lindsay bei jedem Wetter gern spazieren, doch weil sie es heute so eilig hatte, war ihr der Wind lästig. Sie hatte nicht einmal Augen für die ersten Anzeichen des nahenden Herbstes.
    Vor drei Jahren war Lindsay nach Connecticut zurückgekehrt, um eine Ballettschule zu eröffnen. Seither hatte sie es nicht immer leicht gehabt, aber kaum ein Tag war so unerfreulich gewesen wie der heutige.
    Angefangen hatte es mit einer verstopften Wasserleitung in ihrem Studio. Dann musste sie sich fünfundvierzig Minuten lang den Bericht einer begeisterten Mutter über die neuesten Heldentaten ihres Sprösslings am Telefon anhören. Kurz darauf zerrissen gleich zwei Kostüme, und zu guter Letzt wurde es einer ihrer Schülerinnen schlecht, die sich anscheinend den Magen verdorben hatte.
    All diese Zwischenfälle hatte Lindsay mit Fassung ertragen. Doch dann streikte auch noch ihr Wagen. Das war zu viel! Als sie den Zündschlüssel im Schloss herumdrehte, spuckte und stöhnte der Motor wie üblich, aber anstatt nach einer Weile gutmütig anzuspringen, muckte und ruckte er so lange weiter, bis Lindsay sich geschlagen gab.
    »Na dann eben nicht«, sagte sie laut und stieg verärgert wieder aus. Nach einem hilflosen Blick unter die Motorhaube machte sie sich zähneknirschend auf den vier Kilometer langen Heimweg.
    Warum habe ich nicht einfach jemanden gebeten, mich nach Hause zu fahren? fragte sich Lindsay wenig später, als sie im trüben Licht die Straße entlangeilte. Nach zehn Minuten in der kühlen Luft konnte sie wieder klarer denken und sah ein, wie unüberlegt sie gehandelt hatte.
    Das sind die Nerven, dachte sie, ich bin nur wegen der Ballettaufführung heute Abend so nervös.
    Lindsay schob die Hände in die Taschen und schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, dass die Aufführung selbst ihr keine Sorgen machte, denn alle Schülerinnen beherrschten ihre Aufgabe, und die Generalprobe hätte nicht besser verlaufen können. Überdies sahen die jüngsten Mädchen in ihren Ballettröcken so niedlich aus, dass die Zuschauer kleinere Fehler übersehen würden.
    Nein, Lindsay dachte mit einem gewissen Unbehagen an die Stunden vor und nach der Vorstellung. Und an die Eltern ihrer Schüler. Es gab immer einige, die mit der Rolle ihres Kindes nicht zufrieden waren. Andere würden von ihr verlangen, mit den Übungen schneller voranzugehen. Und dann kamen die immer gleichlautenden Fragen: Warum kann meine Paula noch immer nicht Spitze tanzen? Warum hat die Tochter von Mrs Smith einen längeren Auftritt als meine? Wann kommt Sue endlich in die Klasse für Fortgeschrittene?
    Lindsays Hinweise auf den kindlichen Körperbau, wachsende Knochen, Mangel an Ausdauer und noch nicht vorhandenes Gefühl für Timing brachten die Eltern nur selten zur Vernunft. Meistens erreichte sie mehr mit einer Mischung aus Schmeichelei, Eigensinn und Einschüchterung. Irgendwie schaffte sie es schließlich immer, mit allzu ehrgeizigen Vätern und Müttern fertig zu werden. Lindsay brachte sogar ein gewisses Verständnis für sie auf, weil ihre eigene Mutter nicht viel anders gewesen war.
    Nichts hatte sich Mary Dunne sehnlicher gewünscht als eine große Bühnenkarriere für ihre Tochter. Sie selbst war auch Tänzerin gewesen, aber ihre Voraussetzungen waren ungünstig. Da sie kurze Beine hatte und einen gedrungenen Körper, brachte sie es nur durch außergewöhnliche Willenskraft und unermüdliches Training zu einem Engagement bei der Ballettgruppe eines Tourneetheaters.
    Mary war fast dreißig, als sie heiratete. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie längst eingesehen, dass sie niemals Primaballerina werden würde, und sich für kurze Zeit als Ballettlehrerin betätigt. Aber ihre eigene Enttäuschung machte sie zu einer schlechten Lehrmeisterin.
    Mit Lindsays Geburt änderte sich alles. Zwar hatte Mary den Traum, selbst eine große Tänzerin zu werden,
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