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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition)
Autoren: Margo Lanagan
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Daniel Mallett
    D a unten ist die alte Hexe», sagte Raditch und spähte über den Vorsprung zum Six Mile Beach hinunter. «Sie hockt da und häkelt.»
    «Egal. Wir sind ja zusammen», meinte Grinny.
    «Ja, wir sind zusammen, und außerdem haben wir einen Auftrag», sagte James mit erhobenem Kopf – dabei hatte er genauso viel Angst vor ihr wie wir anderen. Er schüttelte seinen leeren Beutel. «Unsere Mütter haben uns hergeschickt, weil wir unsere Familien versorgen müssen.»
    «Ja, und wir sind extra den ganzen weiten Weg hergekommen», meinte Oswald Cawdron.
    «Genau!»
    Also stiegen wir die Klippe hinunter. Es war ein scheußlicher Tag. Der Wind presste uns mit aller Macht gegen die Felswand, oder er versuchte, uns von ihr wegzuzerren. Dann krallten wir uns aneinander und setzten uns hin, damit wir mehr Gewicht hatten und der Wind uns nicht mitreißen konnte. Wütende weiße Gischt überzog das graue Meer; fransige Wolkenfetzen hingen vom Himmel.
    Wir strömten über den Strand. Es gibt zwei Möglichkeiten, Seeherzen zu sammeln: Man geht oben zum Flutsaum, wo der Seetang angespült wird; da gibt es zwar mehr, aber weil die Herzen schon eine Weile herumliegen, sind sie härter und trockener, und viele von ihnen sind schon tot. Man kann sie zwar immer noch essen, muss sie aber länger kauen, wenn deine Mum sie nicht die ganze Nacht lang gekocht hat. Jedenfalls sind sie nicht so gut zu gebrauchen.
    Diejenigen unter uns, denen solche Seeherzen nur ein enttäuschtes Seufzen ihrer Mums oder einen Klaps von ihren Dads eingebracht hätten, gingen darum runter bis ans Wasser. Grinny rannte vor und hob gleich das erste Herz auf. Niemand machte es ihm streitig; auf dem feucht glitzernden Sand lagen genügend Herzen für alle unsere Familien. Nach dem Aufsammeln halten sich die Herzen nicht lange. Sie können zwar tagelang im Seetang vor sich hin trocknen und sind immer noch einigermaßen essbar, aber sobald man sie nach Hause trägt, stellen sie die schlimmsten Dinge an: Sie fallen stinkend in sich zusammen, kriegen weißes Fell oder explodieren einmal quer durch die Speisekammer. Darum sollte man nie mehr mitnehmen, als eine Mum auf einmal kochen kann.
    Wegen der Hexe blieben wir dicht zusammen. Sie saß genau auf der Strecke, die wir gehen mussten, zwischen Flutsaum und Wasser, als hätte sie vor, uns allesamt einzufangen. Neben ihr türmte sich ein großer Haufen Seegras, das sie zum Häkeln benutzte, und auf einem weiteren Stapel lagen bereits fertig gehäkelte Decken. Der Haken ihrer knöchernen Häkelnadel hüpfte und tanzte vor ihrer Schulter herum, während der Rest ihres Körpers reglos war wie ein Fels; nur ihr Kopf schwang hin und her, beobachtete uns, beobachtete das Meer, drehte sich wieder zu uns zurück.
    «Oh!», hauchte James. «Vielleicht sollten wir lieber später wiederkommen.»
    «Ach, jetzt guck dir doch mal diese Masse von Seeherzen an», sagte ich. «Wir sammeln sie schnell ein, laufen nach Hause, und dann haben wir’s hinter uns. Was meinst du, wie deine Mum sich freut! Sieh dir mal das hier an!» Ich hob ein Herz auf; es war ein Doppeldecker – zwei Seeherzen übereinander, wie Igel im Frühling.
    «Aber sie hat Duster Kimes verhext, und der ist jetzt verrückt», wimmerte James.
    «Die Kimes’ sind alle verrückt», gab ich zurück. Ich klang beinahe wie mein Vater, als wüsste ich bestens über alles Bescheid. «Duster hat einfach nur noch mehr Schiss als die anderen. Komm, guck dir das mal an!» Um ihn aus seiner Angststarre zu lösen, ließ ich ein schönes großes Seeherz, an dem spitze kleine Muscheln klebten, in seine Hände plumpsen.
    Die Herzen, die noch im Wasser treiben, sind natürlich die besten und zartesten, aber auch welche, die bereits an Land gespült wurden und dort eingebettet in Meeresschaum feucht gehalten werden, sind noch gut, und selbst die, die noch nicht lange oben auf dem angetrockneten Schaum gelegen haben, sind noch in Ordnung. Aber die anderen Jungs hüpften immer noch oben am Flutsaum entlang und sammelten viel zu viele von den trockenen, besonders Kit Cawdron. Er war noch klein und hatte keine Ahnung, was er da tat; warum sagte Raditch ihm nicht, dass er aufhören sollte? Wir würden das meiste aus Kits Beutel wieder auskippen müssen, wenn nicht das halbe Dorf nach vergammelten Seeherzen stinken sollte.
    «Die anderen müssen aber nicht so ’ne weite Strecke gehen wie wir», bemerkte Grinny neben mir.
    Ich ließ ein üppiges, nass-schweres Herz in meinen
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