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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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ihn bereits mit durchgeschnittener Kehle vorgefunden, einen Dolch mit schwarzem Griff neben sich.«
    »Hat Byrne es getan?«, fragt Thomas. »Hat er seinen Herrn ermordet?«
    »Manche behaupten, er sei der Mörder gewesen. Andere sagen, dass gar nicht Byrne, sondern an seiner statt ein Wechselbalg an jenem Tag nach Blackrock zurückgekehrt sei. Er war kaum wiederzuerkennen und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem immer hungrigen jungen Burschen, der losgefahren war, um seinen Herrn aus dem Hellfire Club abzuholen. Ich habe noch die ärztlichen Aufzeichnungen des Großvaters meines Großvaters zu diesem Fall. Er war der Meinung, der Junge sei durch das Auffinden der Leiche aus dem psychischen Gleichgewicht gebracht worden. In gewisser Weise war er tatsächlich ein Wechselbalg geworden, doch anders als die Bauern das verstanden. Mein Ururgroßvater hatte den Eindruck, dass dem Jungen seine Seele gestohlen worden war. Es schien ihm, als wohnten andere, fremde Wesen in dessen Körper, verlorene, tote Seelen, die aus den verwirrten Augen des Jungen in die Welt starrten. Begreifst du, was ich dir damit sagen will, Thomas?«
    »Nein.«
    Der Doktor lächelt. »Natürlich hast du recht, Thomas. Solche Geschichten sind nichts als Märchen. Bloßer Aberglauben. Aber eins weiß ich ganz sicher, dass der Jazz dir jedenfalls nichts Böses antun wird. Was auch immer du im Leben machst, pass trotzdem auf und lass dir von niemandem deine Seele stehlen!«
    Die Musik hat aufgehört zu spielen. Thomas hört das leise pffft, pffft der Nadel, während die Schallplatte sich weiterdreht. Gespanntes Schweigen.
    »Wie könnte mir jemand meine Seele stehlen?«
    »Indem er mit dir einen Pakt abschließt, indem er dir verspricht, dass sich die geheimsten Wünsche deines Herzens erfüllen werden. Was wünschst du dir denn am meisten, Thomas?«
    Thomas steht auf und mustert mit liebevollem Blick die fremden Städtenamen, die in goldener Schrift auf dem Radioapparat neben dem Grammofon zu lesen sind: Kairo und Hilversum, Helsinki und Paris, Berlin und Kopenhagen. Was für eine faszinierende Vorstellung, dass er nur den Apparat einzuschalten und am Knopf des Radios zu drehen braucht – und Stimmen aus aller Welt sind dann in diesem Zimmer zu hören, als würden Gespenster aus der Ferne ihm etwas zuflüstern. Er behält seinen unbändigen Wunsch, in die große, weite Welt zu reisen, für sich; niemals wird er einfach tun können, was er will. Als er sich abwendet, bemerkt er auf einem Schränkchen eine aus Holz gedrechselte Puppe.
    »Öffne sie«, sagt der alte Arzt.
    »Was soll ich tun?«
    Doktor Thompson nimmt die Holzpuppe und zeigt Thomas, wie sie sich in der Mitte öffnen lässt. In der Puppe kommt eine weitere Puppe zum Vorschein, ein wenig kleiner als die erste, aber ansonsten gleich.
    »Ich habe sie einem Emigranten in Paris abgekauft«, sagt der Arzt, »einem Adeligen, der vor den Bolschewiken floh. Man nennt diese Puppen in Russland Babuschka oder auch Schachtelpuppen.«
    Der Arzt öffnet eine Puppe nach der anderen und zieht immer kleinere Puppen daraus hervor, bis zwölf davon auf dem Schränkchen nebeneinander aufgereiht dastehen.
    »Wie schön«, sagt Thomas.
    Der Arzt nickt. »Und zugleich grausam. Stell dir nur mal vor, wie es sich anfühlen muss, eine Puppe in der Puppe zu sein, dein eigenes Ich zu verlieren und dein Leben in Dunkelheit zu verbringen, eingeklemmt zwischen Verdopplungen deiner selbst. Dauernd zu wissen, dass ein anderes Gesicht über dein eigenesgestülpt ist. Zum Glück brauchen Puppen keine Luft zum Atmen, sonst würden sie alle hier ersticken.« Doktor Thompson steckt die Puppen bedächtig wieder ineinander. »Vermutlich war es das, was der Großvater meines Großvaters mit einem Wechselbalg meinte; dass jemand gezwungen wird, Glied zwischen den Gliedern einer Kette zu sein, nachdem eine Person oder irgendeine Macht ihm seine Seele gestohlen hat. Sucht, Abhängigkeit, Triebe, Wünsche sind alles Formen von Sklaverei. Geh nach Hause, Thomas. Sag deiner Mutter, dass mit deinem Herz und deiner Lunge alles in Ordnung ist. Nimm die Schallplatte als Geschenk von mir mit.«
    »Pater O’Connor würde es nicht gutheißen, dass ich eine solche Schallplatte besitze. Er sagt, aus mir wird später einmal ein Priester werden.«
    »Im Leben läuft es selten so, wie wir uns das vorstellen, Thomas. Du kannst nicht wissen, was aus dir einmal werden wird. Doch was auch immer an Gefahren auf dich wartet, von Jazzmusik drohen sie
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