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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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noch gegenseitig anbrüllten – und ihn auch. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es solche Spannungen auch schon gegeben hatte, als er noch kleiner gewesen war. Eigentlich die ganzen Jahre nicht, in denen er in dem alten Haus in Sallynoggin aufwuchs, das ursprünglich seinem Großvater gehört hatte. Er sah ihn noch genau vor sich, seinen Großvater Jack O’Driscoll, den Vater seines Vaters – einen gutmütigen alten Mann, der den ganzen Tag im Lehnstuhlsaß und immer behauptete, Shane sei ihm als Junge wie aus dem Gesicht geschnitten. Shane ging noch nicht in die Schule, da hatte Granddad Jack ihm schon das Schreiben beigebracht, indem er ihn seine eigene, wie gestochene Schrift nachahmen ließ. Er hatte Shane Geschichten aus seiner eigenen Kindheit in Blackrock erzählt; und wie er dann angefangen hatte, in einer kleinen Molkerei in der Castledawson Avenue zu arbeiten, angestellt bei Mrs McCormack – einer griesgrämigen Vettel mit der schärfsten Zunge und dem knauserigsten Geldbeutel in ganz Blackrock.
    Das einzig Gute an seiner Zeit in der Molkerei, so pflegte Shanes Großvater immer zu sagen, sei gewesen, dass er dort seine Frau Molly kennengelernt habe. Molly hatte als Küchenhilfe bei Mrs McCormack gearbeitet. Sein Großvater hatte Shane unzählige Geschichten über Leute erzählt, die das Herz auf dem rechten Fleck trugen, und über andere, die knauserig und hartherzig waren. Beide Arten von Leuten hatte er zur Genüge kennengelernt, nachdem er McCormacks Molkerei verlassen hatte, um als Botenjunge für Findlater’s an der Hauptstraße von Blackrock zu arbeiten. Er radelte in der Gegend herum, um Lebensmittel an die großen Landhäuser rund um Mount Merrion und Stillorgan auszuliefern. Das Dorf seiner Kindheit mochte sich zwar stark verändert haben, aber Shanes Großvater legte immer Wert darauf, dass bei den O’Driscolls – anders als bei dem neuen Volk, das in den hübsch herausgeputzten Landhäusern lebte – schon seit Generationen Blackrock-Blut durch die Adern floss. Das reichte bis in die Zeit zurück, als der Ort noch Newtown-by-the-Black-Rock hieß und nur aus wenigen Häusern bestand, an die Küste geschmiegt, die von einer dem Ufer ein Stück vorgelagerten, steil aus dem Meer ragenden Klippe aus schwarzem Fels beherrscht wird.
    Shanes Großvater war vor fünf Jahren gestorben, und obwohl sich seine Eltern danach auch schon ab und zu gestritten hatten, hatte er die Zeit als ziemlich glückliche Periode in Erinnerung. Seine Eltern lachten und umarmten sich und sie umarmten auch ihn. Manchmal beschwerte sich seine Mutter darüber, dass im Haus alles etwas beengt war, aber Shane hatte die kleinen, gemütlichen Zimmer gemocht. Er fühlte sich in ihnen richtig daheim. Shanes Vater hatte in Sallynoggin auch glücklich gewirkt, bis sich dann vor einem Jahr auf einmal alles änderte. Plötzlich war Shanes Vater geradezu besessen von der Idee, nach Blackrock umzuziehen – und daraufhin hatte sich Shanes Leben total verändert.
    Über mangelnden Raum konnte sich seine Mutter in dem neuen Haus, das auf dem Sion Hill an der Stätte eines alten Klosters erbaut worden war, nicht beklagen. Das Gebäude war ultramodern, auch wenn die hohen, gewölbten Decken an lang vergangene Zeiten erinnern sollten. Die Räume waren mit Eichenparkett ausgelegt und hatten Eichentüren mit Messinggriffen und farbigen Glasscheiben, die das Licht in alle Zimmer fluten ließen. Die Wände im Bad waren mit Kalksteinfliesen gekachelt und die Badewanne war dem viktorianischen Stil nachempfunden und hatte Löwenfüße. Im Wohnzimmer befand sich ein auf antik gemachter Marmorkamin, in dem Gasflammen brennende Holzscheite imitierten. Passend zur Einbauküche war eigens ein Granitküchentisch mit dazugehörenden Hockern gefertigt worden. Breite Doppeltüren öffneten sich auf einen nach Süden gelegenen Balkon. Fast alle Zimmer hatten einen weiten Blick über die Dubliner Bucht bis nach Howth Head. Direkt hinter der viel befahrenen Rock Road konnte Shane aus seinem Fenster den Blackrock Park sehen und die Zufahrt zum Emmet Square, jenem von schmalen Reihenhäusern im edwardianischen Stil umstandenen Platz, von dem aus sein Großvater jeden Tag zur Arbeit in McCormacks Molkerei aufgebrochen war.
    Das neue Haus fühlte sich riesig an. In jedem Zimmer hallte es, weil sie bis auf die Einbaumöbel, die ihnen die Vorbesitzer hinterlassen hatten, fast leer waren. Ein Möbelwagen hatte alles aus ihrem alten Haus in
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