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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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in das Schlafzimmer, das sie bis vor drei Monaten mit meinem Vater geteilt hat, und schaut mich lang an. Ich liege schlafend in meiner Wiege. Sie weiß, dass ich bald aufwachen werde und gestillt werden muss. Ihre Hände haben gestern so stark gezittert, dass sie mich fast hätte fallen lassen. Es kann nicht so weitergehen mit dieser Spirale, die ins Chaos führt; die Nächte ohne Schlaf, die Tage ohne eine Menschenseele; der Schmutz und die Verwahrlosung hier im Haus, wo sie es nicht mehr über sich bringt, zu kochen oder ihr Kind zu baden oder irgendetwas anderes zu tun, außer zu weinen. Sie weiß, dass sie sich entscheiden muss. Entweder Dessie Kilmichaels Witwe zu sein oder eine Mutter für ihr Kind.
    Wie lang sie wohl dagestanden haben mag, über meine Wiege gebeugt, zitternd vor Kummer und gierig nach Wodka, weil er ihr zu vergessen hilft? Schließlich dreht sie sich um. Sie holt den Koffer herunter, den mein Vater auf Tour immer dabei hatte. Sie stopft ihn mit allem voll, was an ihn erinnert. Mit allem. Unerbittlich. Dann lässt sie mich in meiner Wiege allein zurück, verlässt das Haus, geht die Brusna Cottages entlang und überquert die Main Street. Danach biegt sie links in die Bath Place, bis sie zur Idrone Terrace kommt. Jetzt liegen nur noch die Bahngleise vor ihr und dahinter das Meer. Es regnet heftig,als sie die alte Fußgängerbrücke hochgeht, die über die Gleise führt. Dort steht sie lange und schaut hinunter. Dann schleudert sie alles auf die Gleise: alle Demotapes meines Vaters, die Plakate und Zeitungsausschnitte, seine Songtexte und jedes Foto, das sie beide miteinander zeigt. Sie beobachtet, wie das alles vom Wind davongetragen wird, eine kostbare Erinnerung an meinen Vater nach der anderen, und wie der Regen seine handgeschriebenen Texte auslöscht. Sie weiß, dass es der einzige Weg ist, um sich von der Vergangenheit loszureißen, bevor sie von ihr zerfressen wird. Sie bleibt auf der Brücke stehen, bis eine Stunde später der erste Zug kommt und die Räder über die letzten Spuren meines Vaters hinwegrollen. Da hat der Wind bereits alle Taten und Träume seines Lebens die Gleise entlang verstreut. Schließlich geht sie nach Hause, um den letzten Rest Wodka in die Spüle zu kippen und von nun an nur noch an die Zukunft zu denken, mir zuliebe.

S ECHSTES K APITEL
    J OEY
    S EPTEMBER 2009
    M eine erste Woche im Stradbrook College verging und ich erkannte, dass es dort nichts ausmachte, anders zu sein. Aber egal, wie tolerant die Atmosphäre zu sein schien, ich beschloss, weiter auf der Hut zu sein. Mein Plan war, mich im Hintergrund zu halten, sodass niemand mich groß bemerkte. Shane O’Driscoll bemerkte mich trotzdem. Während langweiliger Unterrichtsstunden winkte er mir quer durchs Klassenzimmer zu. In der Pause klopfte er mir von hinten auf die Schulter und fing ein Gespräch mit mir an. Shane quatschte mit jedem, aber wenn er mit mir redete, fühlte es sich immer an, als hätten wir einen Geheimclub gegründet, in dem nur wir beide Mitglieder waren. Als würden wir unsere privaten Scherze machen, die kein anderer verstand.
    Obwohl er aus Blackrock stammte, wie manche sagten, oder vielleicht auch aus Sallynoggin, wie andere sagten, hatte er die letzten beiden Jahre in England verbracht. Die Tatsache, dass er sich anscheinend ausgerechnet mich zum Freund ausgesucht hatte, verwirrte mich, schließlich drängten sich – mit einer Ausnahme – alle in der Klasse danach, mit ihm befreundet zu sein. Nur Geraldine, das Mädchen, das mich am ersten Schultag angelächelt hatte, schien seinem Charme gegenüber immun zu sein.Geraldine war anders als alle anderen Mädchen in der Klasse, reifer, aber irgendwie auch verletzlicher. Sie war diejenige, mit der ich mich am häufigsten unterhielt. Leider fanden alle diese Gespräche nur in meinem Kopf statt, denn ich hätte sie zwar gern gefragt, ob sie nicht mal mit mir ins Kino gehen wolle, aber mir fielen nie die richtigen Worte ein, um mit ihr ein Gespräch anzufangen. Und dass sie als Einzige in der Klasse nicht bei Facebook war, machte es noch schwieriger: Während ich über alle anderen viel zu viel wusste, wusste ich über sie viel zu wenig.
    Nach zwei Wochen waren Shane und ich die besten Freunde und standen in den Pausen immer zusammen. Als ich ihm einmal von meiner Mutter erzählte, fiel mir erst auf, wie wenig ich eigentlich über ihn wusste. Er hatte mir nur erzählt, seine Eltern seien alle beide vor zwei Jahren gestorben. Wenn man
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