Wo die verlorenen Seelen wohnen
abzuliefern. Bloß nicht komisch auffallen, das war die Devise. In meiner alten Schule bist du gemobbt worden, wenn du die falschen Turnschuhe angehabt hast. Wie blöd kann man da sein, nur mit einer Gitarre und einem selbstverfassten Songtext in der Hand auf die Bühne zu gehen?«
»Ich wette, dein Song war verdammt gut«, sagte Shane.
»Das war völlig egal. Wenn du da überleben wolltest, musstest du so sein wie alle anderen. Du hast immer dasselbe anhaben müssen wie alle anderen und deine Gedanken besser für dich behalten. Es ging darum, sich bloß nicht lächerlich zu machen. Ich weiß noch genau, wie sie mich alle anstarrten, als ich auf die Bühne kam, der ganze Saal voller Jungs mit ihren Freundinnen – oder ihren Schwestern, die sie mitgeschleppt hatten, um so tun zu können, als hätten sie eine Freundin. Plötzlich hatte ich keine Stimme mehr und alle meine Akkorde kamen total falsch. Und mir war klar, dass danach alle ihre Witze über mich reißen würden. Von da an war ich ihr Opfer.«
»Nicht alle Schulen sind so«, sagte Shane. »Hier ist es anders.«
»Ich lege keinen Wert drauf, das rauszufinden«, antwortete ich, während die Pausenglocke bereits schrillte. »Den Kopf rausstecken, nur damit mir dann jemand einen Fußtritt versetzen kann? Weil er mir zeigen will, wo mein Platz ist? Nein, danke! Die Jungs in meiner alten Schule wussten ganz genau, dass ich keinen Dad hatte und dass ich meiner Mutter nichts erzählen würde, weil sie schon genug andere Sorgen hatte.«
»Wie schlimm haben sie es denn getrieben?«, fragte Shane, als wir über den Hof zurückgingen.
»Zuerst nur das Übliche«, sagte ich. »Aus meinen Heften die Hausaufgaben herausreißen, Beleidigungen an die Wände schmieren, mein Pausenbrot klauen oder mein Handy in die Kloschüssel werfen. Aber bald haben dann alle mitgemacht, auch die Streber. Wenn nämlich jemand anders das Opfer war, brauchten sie selbst keine Angst mehr zu haben, dass sie gemobbt wurden. Am Schluss konnte ich die Striemen oder blauen Flecken nicht mehr verstecken, wenn sie mich mal wieder verprügelt hatten. Mum war großartig. Sie hat dem Direktor den Kopf gewaschen, als der von der Anti-Mobbing-Strategie an der Schule daherlaberte. Er hat ihr versprochen, die Geschichte werde für ein paar Schüler Konsequenzen haben, aber sie hat ihn angefahren und gesagt, er solle aufhören, solche Lügen zu erzählen, sie wüsste genau, dass die Väter der Anführer viel zu gute Beziehungen hätten, als dass die Schule es wagen würde, sie rauszuschmeißen. Er solle sich seine Schule sonst wohin stecken. Und danach hat sie dafür gesorgt, dass ich hierher an die Schule komme.«
Wir waren im Schulflur angekommen. Shane blieb auf der Schwelle kurz stehen und schaute mich an. »Klingt so, als wäre deine Mum eine ziemlich klasse Frau. Du hast Glück.«
»Sie ist für mich mehr als nur meine Mum«, sagte ich, als wir reingingen. »Sie ist meine beste Freundin.« Ich machte eine Pause. »Hör zu, Shane, bitte erzähl das alles keinem! Ich will nicht, dass mir hier noch mal so was passiert. Okay?«
S IEBTES K APITEL
S HANE
J UNI 2007
I n dem Sommer, als er vierzehn wurde, lächelte Shane seine Eltern jeden Morgen ganz verschlafen an und log ihnen etwas vor, wenn sie ihn aufweckten, bevor sie aus dem Haus gingen. Angeblich hatte er immer jede Menge Pläne für den Tag. Aber das einzige Ereignis, auf das er sich wirklich freute, war sein tagtäglicher Besuch in der Bücherei von Blackrock. Immer vormittags. Sein ganzer Tag hing davon ab, ob er dort ein spannendes Buch fand. Wenn er nämlich eine gute Abenteuergeschichte fand, bei der er alles um sich herum vergessen konnte, machte es ihm nichts aus, den ganzen Nachmittag lang allein zu verbringen. Im Fernsehen gab es für einen Vierzehnjährigen um diese Zeit nicht viel zu sehen, und aus der neuen Xbox, die sein Vater ihm versprochen hatte, nachdem die alte kaputt gegangen war, wurde nie etwas. Auf seinem Handy trudelte auch fast nie eine SMS ein, weil seine alten Freunde in Sallynoggin zu sehr damit beschäftigt waren, mit sich selbst und ihrem Leben klarzukommen, um sich dafür zu interessieren, wie es ihm wohl jetzt erging. Ein- oder zweimal nahm er den Bus nach Sallynoggin und versuchte, dort auf der Grünfläche gegenüber von seinem früheren Zuhause ein wenig mit seinen alten Kumpels abzuhängen. Aber das lief nicht besonders gut, weil sie ihn inzwischen für einen Snob hielten, dem es wohl in Sallynoggin nicht
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