Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
Vom Netzwerk:
erfährt, dass jemand keine Eltern mehr hat, ist man so geschockt, dass man lieber erst mal keine Fragen mehr stellt, aus Angst, ihn mit einer falschen Frage zu verletzen. Sooft ich danach irgendetwas aus seinem Leben wissen wollte, wich Shane aus, indem er einen Witz machte, anstatt zu antworten, und es endete damit, dass ich ihm nur noch mehr von mir selbst erzählte, weil er ein so guter Zuhörer war. Er lauschte gebannt, ja, er schien gierig, jedes Detail meines Lebens aufzusaugen.
    »Was war das eigentlich für eine Geschichte mit dem Mobbing an deiner alten Schule«, fragte er eines Tages in der Pause.
    »Es ging um die Seele«, sagte ich, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. »Alle anderen in meiner Klasse hatten keine und ich hatte zu viel davon.«
    »Man hat nur eine einzige Seele«, sagte Shane, »außer man stiehlt sich eine von jemand anders.«
    »Wenn ich Seele sage, meine ich damit Musik«, erklärte ich. »Soul-Musik. Wie mein Vater sie gespielt hat.«
    »Und macht er das jetzt nicht mehr?«
    »Er ist bei einem Autounfall umgekommen, in den Wicklow Mountains. Auf der Heimfahrt von einem Konzert. Er komponierte, sang und spielte seine Songs alle selbst.«
    »War er gut?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn man seinen Namen googelt, landet man bei allen möglichen seltsamen Einträgen. Ein Blogger schreibt: ›Als ich das erste Mal das Wahnsinnsgenie Dessie Kilmichael hörte, beschloss ich auch, Gitarre spielen zu lernen.‹ Oder: ›Der und der Typ hört sich an wie ein neuer Dessie Kilmichael – wie tragisch sein Tod doch war, wenn man bedenkt, dass Songwriter mit nur einem Bruchteil seines Talents inzwischen Millionäre sind.‹«
    »Und was hältst du von seinen Songs?«, fragte Shane.
    »Hab nie einen gehört.«
    Shane lachte ungläubig auf und kickte einen Stein über den Pausenhof. »Das ist jetzt ein Witz, oder?«
    »Nein. Er hatte sogar schon den Titel für sein Debütalbum – New Town Soul  –, aber er kam nicht mehr dazu, es zu veröffentlichen. Er bastelte dauernd daran herum, von jedem Song hat er unzählige Aufnahmen gemacht. Mum sagt, dass er nach dem perfekten Take gesucht hat, der Aufnahme, die ihn unsterblich machen würde. Sie hat alle seine Demotapes zerstört, als ich noch klein war.«
    »Warum?« Shane sah mich an.
    Wieder zuckte ich mit den Schultern. Ich hatte keine Lust, mehr davon zu erzählen. Manchmal, das wusste ich, sehnte sich Mum immer noch nach der Gesellschaft des Wodkas. Als Kind hatte ich ab und zu eine ungeöffnete Flasche unter ihrem Bett gefunden und wusste dann, dass sie hart dagegen ankämpfte, sie zu öffnen. Sie hatte der Versuchung immer widerstanden.Aber noch tagelang danach konnte ich ihr jedes Mal anmerken, wie viel Überwindung es sie gekostet hatte. »War eben so«, antwortete ich. »Sie redet nur selten über ihn.«
    »Fehlt er dir?«
    »Ich hab ihn gar nicht gekannt. Ich war noch ganz klein, als er starb. Aber ich hab mir die ganzen alten Platten aus seiner Sammlung angehört. Die hat Mum alle behalten, obwohl sie sie selbst nie hört. Das war für mich der Weg, um ihn kennenzulernen. Verstehst du, was ich meine? Manche von den Platten sind so alt, dass er sie bestimmt schon besessen hat, als er so alt war wie ich und das Gitarrespielen gerade erst gelernt hat.«
    »Spielst du selber auch?«
    »Du willst mich wohl verarschen.« Ich verdrehte die Augen. »Was glaubst du, warum ich in meiner alten Schule so viel Ärger gekriegt habe?«
    »Warum sollte ich das tun. Ich hab nur noch nie gehört, dass jemand wegen Gitarrespielen gemobbt worden ist.«
    »Kommt drauf an, was du spielst«, sagte ich. »Ich hab es mir selber beigebracht. Ich hab bei mir auf dem Bett gesessen und mir vorgestellt, was mein Dad wohl in meinem Alter gespielt hat. War echt verrückt, ich konnte das stundenlang so machen, mit geschlossenen Augen dasitzen und mir Songs ausdenken und sie spielen. Ich hab mich da immer gefühlt, als würde mein Dad mir zuhören. Aber das war natürlich nur Einbildung.«
    »Was soll daran schlimm gewesen sein?«, fragte Shane leise. Ich wusste, dass er an seinen eigenen Vater dachte.
    »Das war noch nicht alles«, sagte ich. »Ich hab dann an diesem Wettbewerb teilgenommen.«
    »Ja, und?«
    »War eher so ein Karaoke-Wettbewerb, wo Typen einen Rapper-Auftritt hingelegt haben, und ihre Freundinnen machten die Tanzbewegungen von irgendwelchen Girl-Bands nach. Es ging da nicht um die Musik, es ging nur darum, die schlechte Kopie von irgendeinem Star

Weitere Kostenlose Bücher