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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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bejahte. Damals in der Nacht, als ich endlos tief in das eiskalte dunkle Wasser stürzte. Damals in der Nacht, als ich dann das Gefühl hatte, zurückgeschleudert zu werden. Bis diese Empfindung auf einmal aufhörte und mir die Stimme meines Vaters das letzte Mal etwas zuflüsterte. »Öffne die Augen, jetzt bist du in Sicherheit.« Seine Stimme klang bereits wie aus weiter Ferne, als hätte er, nachdem er mich viele Jahre begleitet hatte, nun beschlossen, sich dorthin auf den Weg zu machen, wohin die Toten entschwinden. Wo auch immer das ist. Durch meine Augenlider drang helles Morgenlicht und ich musste einen Moment lang blinzeln, bevor ich sie öffnete. Ich streckte blind die Hand aus und spürte Holz unter meinen Fingern. Die Tür eines Klassenzimmers.
    Da wusste ich, wo ich war und was ich zurückbekommen hatte. Ich machte die Tür auf und betrat ein überfülltes Klassenzimmer. Die Gesichter wandten sich mir kurz zu, weil ich neu in der Klasse war. Die Blicke waren eher abschätzig als neugierig. Aber auch nicht wirklich feindselig. Ich war zu normal, um interessant zu sein. Aber ein Mädchen mit pechschwarzen Haaren blickte ebenfalls hoch und lächelte eine Sekunde lang, bevor sie den Kopf wegdrehte.
    Dieses Lächeln reichte aus, um mir Mut zu machen, wie es auch später noch oft der Fall war. Es dauerte einige Zeit, bis Geraldine und ich uns näherkamen. Doch dann griff sie nachmeiner Hand und öffnete mir ihr Herz. An jenem Abend – drei Monate nach meinem ersten Tag im Stradbrook College – ging sie mit mir zu dem Doppelhaus in Sion Hill, wo zwei Jahre zuvor ihr erster Freund durch eine Rauchvergiftung ums Leben gekommen war. Man fand ihn später in den Armen seines Vaters, der in das brennende Haus zurückgerannt war, um ihn zu retten. Geraldine gestand mir, dass sie in Shane O’Driscoll sehr verliebt gewesen war, aber die Geschichte zwischen uns beiden sei etwas ganz anderes, da sei wirklich Liebe im Spiel.
    Danach gingen wir an der Baustelle in der Castledawson Avenue vorbei, wo vor Kurzem die Gebäude der alten Molkerei abgerissen worden waren, in Richtung Booterstown, um dem kleinen Friedhof hinter der Esso-Tankstelle an der Merrion Road einen Besuch abzustatten. Vor einem alten Familiengrab blieb sie stehen. Auf dem Grabstein war der Name von Thomas McCormack eingraviert, der nun wieder mit seinen Brüdern vereint war. Geraldine legte eine Blume auf das Grab. Shane und sie hatten sich mit dem alten Mann damals im Sommer angefreundet, als sie Privatdetektive gespielt und in den Gebäuden der alten Molkerei herumgeschnüffelt hatten. Man hatte Thomas McCormack später tot im Keller seines Hauses gefunden. Er war erst kurz zuvor nach Blackrock zurückgekehrt, nachdem er viele Jahrzehnte in Amerika gelebt hatte.
    Fünf Jahre später brachte ich mein erstes Album New Town Soul heraus. Es enthielt sechs Stücke von mir und sechs Lieder meines Vaters, die von einem Demotape stammten, das einer meiner Lehrer bei sich auf dem Speicher entdeckt hatte. Ich hatte damit großen Erfolg und wurde schlagartig berühmt. Für kurze Zeit hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein Star zu sein. Meine Lieder wurden andauernd im Radio gespielt. Aber wie das mit dem Berühmtsein eben so ist, es hält nicht ewig an. Seit damals habeich alle Höhen und Tiefen eines Musikerlebens kennengelernt – Niedergeschlagenheit und Freude, Buhrufe aus dem Publikum und unerwartete Erfolge. Kurzum, ich habe ein ganz normales Leben geführt, in dem ich mich bemüht habe, jeden Tag als ein kostbares Geschenk zu nehmen und mich an dem Wunder zu erfreuen, von dem ich niemandem erzählen kann – dem Wunder, mir eine zweite Chance in meinem Leben gewünscht zu haben, und diesen Wunsch auch erfüllt zu bekommen.
    Als ich an dem Morgen in der Tür des Klassenzimmers stand, mich umdrehte und feststellte, dass hinter mir kein anderer Junge war, da begriff ich, dass ich tatsächlich einen zweiten Versuch geschenkt bekommen hatte. Jetzt lag es an mir. Die Kette des Bösen war durch die Geister meiner Ahnen zerbrochen worden, deren Liebe um mich herum einen Schutzwall gebildet hatte. Aber diese guten Geister waren ebenfalls verschwunden. Vielleicht begegnete ich dem Geist meines Vaters ja eines Tages in einem anderen Reich wieder. Aber jetzt musste ich selbst handeln. Ich ging durch die Reihen der quasselnden Schüler hindurch, um mich auf den freien Platz am Fenster zu setzen.
    Ich war nicht nervös und tat auch nicht so, als wäre ich
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