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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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mich auf den Boden zu pressen. Das Gesicht des Alten beugte sich über meines.
    »Wünsch dir etwas«, keuchte er. »Wünsch dir, was du willst: als Musiker berühmt zu werden, unsterblich zu sein, egal was. Es wird dir erfüllt werden.«
    »Fahrt zur Hölle!«
    »Hölle?« Beide lachten bitter auf und antworteten dann wie aus einem Mund: »Wir sind schon in der Hölle. Wenn du verstehen willst, was die Hölle ist, dann schau uns an, Joey.«
    »Und ihr glaubt, dass ich auch so einer werden will wie ihr?«,schrie ich. »Ich soll auch so eine verlorene Seele werden? Für immer in einem Körper gefangen?«
    »Hast du denn eine Wahl?«, sagten sie beide gleichzeitig. »Wir werden beide sterben und du kannst dich vor Schmerzen kaum rühren. Weder du noch Geraldine werden es hier rausschaffen. Und keiner wird in diesem Keller nach euch suchen. Ihr werdet verhungern und verdursten. Aber das muss alles nicht sein. Wir können zu dritt weiterleben. Wir können gemeinsam deinen Körper bewohnen. Du musst dir nur etwas wünschen. Denk an Geraldine, sie hat sich vielleicht bei dem Sturz das Genick gebrochen. Wünsche dir, dass sie das alles unversehrt übersteht. Wir lieben sie alle drei und wollen ihr nichts Böses.«
    Sie schleiften mich über die Steinfliesen, bis ich vor dem Brunnen lag. Ich starrte in das Wasser. Der Jüngere der beiden hatte so viel Blut verloren, dass er blass und ermattet neben mir zu Boden sank. Ich wusste nicht, ob er noch lebte oder schon tot war. Der Ältere griff nach den beiden Würfeln im Wasser. Er schloss die Finger darum.
    »Bist du unter dieser Larve wirklich erst sechzehn?«, fragte ich.
    »Ich habe jedes Alter und keines«, flüsterte er. »Ich muss jetzt sterben und habe Angst davor. Gib mir deine Hand.«
    Seine Greisenhand zitterte, die Handfläche war von unzähligen Linien durchzogen. Keine Handleserin wäre jemals in der Lage, sie zu entziffern. Aber wenn er vorhin die Wahrheit gesagt hatte, dann steckte in dieser Haut ein Junge, der nur vier Monate älter war als ich. Ich streckte ihm meine Hand hin. Sein Griff war auf einmal überraschend fest, fast wie ein Schraubstock hielt er sie umklammert, als hätte er sich seine letzte Kraft für diesen Moment aufgespart. Ich merkte erst, dasser immer noch das Messer mit dem schwarzen Griff in der Hand hatte, als er rasch einen Schnitt über mein Handgelenk machte und dann sein eigenes Handgelenk aufritzte. Dann ließ er das Messer fallen, drückte die Würfel in meine zusammengepresste Faust und wartete, bis das Blut aus unseren Wunden sich vermischte.
    »Nein!«, schrie ich. »Du wirst mein Leben nicht für deine Zwecke missbrauchen! Fahr zur Hölle!«
    Der Jüngere kroch auf uns zu. Zuerst glaubte ich, er wollte meine Hand befreien. Dann sah ich seine wilde, entschlossene Miene. Er wollte den alten Mann beiseiteschieben und seinen Platz einnehmen. Das überall verschmierte Blut aus seiner Stichwunde vermengte sich mit meinem Blut. Beide lagen auf mir und versuchten, meine Faust mit den Würfeln in das Wasser zu tauchen. Nur dann schien sich der Fluch erfüllen zu können. Der Brunnen wirkte nicht tief, doch ich wusste auf einmal, dass das täuschte. Er reichte in unendliche Tiefen. Mir war klar, wenn ich hineinfiel, würden sie mir nachstürzen, die Steine würden unter uns nachgeben und wir würden alle drei in dem dunklen Wasser ertrinken. Ihre beiden Gesichter hatten denselben Ausdruck.
    »Lass los!«, schrien sie. »Lass los!« Ich hatte keine Ahnung, ob sie damit mich meinten oder jeder den anderen. Meine Faust öffnete sich unwillkürlich und die Würfel entglitten mir. Ich versuchte noch, nach ihnen zu greifen, aber vergebens. Als sie ins Wasser sanken, hörte ich den Jungen und den Alten auf mir rufen: »Ich will es zurück!«
    Dann stürzten wir alle drei in die Tiefe. Während mein Kopf in das Wasser eintauchte, nahm ich wahr, dass im Brunnen Gesichter auf mich warteten. Ich konnte das Gesicht meines Vaters und meiner Großmutter erkennen, auch zahllose weitereGesichter, die mir jedoch nichts sagten. Aber ich bedeutete ihnen etwas. Sie waren alle meine Ahnen, von meinem Vater herbeigerufen. Sie waren die Schutzgeister, die auf Bull Island ihre Gesichter gegen die Scheiben des geklauten Autos gepresst hatten. Sie umgaben mich, als das eisige Wasser mir in die Nase drang. Ihre Liebe umhüllte mich, während in meinem Kopf der letzte Ausruf widerhallte: Ich will es zurück.
    Ich hörte Shane und Thomas immer noch rufen, aber eine
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