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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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miteinander fertig sind, wird es keine Verwirrung mehr darüber geben, wer wer ist. Es ist höchste Zeit, dass du in meinen neuen Köper hinüberwechselst und wir eins werden.«
    Geraldine stellte sich vor den alten Mann.
    »Ich werde nicht zulassen, dass er dich anfasst«, sagte sie.
    Der alte Mann erhob sich und schob sie beiseite. Sie stürzte und fiel so unglücklich, dass sie sich dabei den Knöchel verdrehte. Ihr Aufschrei gellte mir in den Ohren, aber ich starrte wie gebannt auf das Messer mit dem schwarzen Griff, das Thomas aus seinem Mantel hervorgezogen hatte. »Ich wusste doch, dass ich nur den richtigen Lockvogel aufbieten musste, dann würdest du schon kommen. Du hattest von Anfang an ein Auge auf sie geworfen. ›Herzlich willkommen bei mir zu Hause, sagte die Spinne zur Fliege.‹ Das waren deine Worte, als Geraldine und ich damals hier eingebrochen sind. Jetzt bin ich die Spinne und du bist die Fliege. Du hast mir meinen Körper gestohlen und jetzt will ich ihn zurück.«
    »Es gibt nur einen Weg, um ihn dir zurückzugeben.« Der junge Shane tänzelte vor ihm hin und her, wobei er darauf achtete, dem Messer keinesfalls zu nahe zu kommen. »Das weißt du auch. Weil wir nämlich beide die Gedanken des anderen kennen und dieselben Stimmen hören. Aber ich habe dir etwas gegeben, das du nie hättest haben dürfen: ein längeres Leben. Ich habe dem Flehen der Stimmen nicht nachgegeben, weil dein Großvater und ich einst Freunde waren. Ich habe den Fehler begangen, dich in meinem alten Körper noch weiterleben zu lassen.«
    Geraldine verzog vor Schmerzen das Gesicht, als sie aufzustehen versuchte. Aber sie schaffte es nicht, und deshalb bat siemich, die beiden auseinanderzudrängen. Thomas McCormack schnitt mit dem Messer durch die Luft.
    »Das ist kein Leben«, rief er. »Vor zwei Jahren war ich ein vierzehnjähriger Junge. Und jetzt, was bin ich jetzt? Schaut mich an – gefangen im Körper eines Greises.« Er fuhr erneut mit dem Messer durch die Luft, aber man merkte ihm an, dass er nicht mehr viel Kraft besaß. »Warum hast du den Fluch nicht gebrochen und bist hier allein gestorben?«
    Shane wich der Klinge geschickt aus. »Und warum musstest du in das Haus einbrechen?«, fragte er. »Ich habe die Haustür verriegelt und das Fenster verhängt. Ich habe nachts nur zwei Kerzen angezündet. Aber eure Neugierde hat euch hierher getrieben und deine Gier nach Geld. Das haben die Geister genau gespürt und sich zunutze gemacht.«
    Der alte Thomas McCormack stürzte beinahe, als er wieder mit dem Messer durch die Luft fuhr. Shane fasste ihn am Handgelenk, aber er unternahm keine Anstalten, ihm das Messer zu entwenden.
    »Vor siebzig Jahren habe ich mir gewünscht, die Welt kennenzulernen«, sagte Shane. »Die Stimmen erfüllten mir diesen Wunsch tausendfach. Ich kniete neben sterbenden Wanderarbeitern, die vom Dach eines Güterzugs gefallen waren. Ich fischte nach verlorenen Seelen, wie ein Strandläufer nach angeschwemmtem Treibgut sucht. Ich machte mir dabei vor, ich würde ein barmherziges Werk tun, im Namen Gottes. Aber ich rettete diese Seelen nicht, ich sperrte sie in mir ein, wo sie wie Bienen in einem Bienenkorb herumsummen.«
    »Dann heb doch deinen Pullover hoch«, sagte der alte Mann. »Ich schneid dir gern das Herz heraus und lasse sie alle frei.«
    »Wenn du diesen jungen Körper tötest, dann tötest du uns beide, und du willst ja auch noch nicht sterben. Aber es gibt einen Weg, um dir wieder zu deinem früheren Körper zu verhelfen«, sagte Shane. »Ich weiß, dass du Angst davor hast, weil ich auch Angst davor hatte, damals, als ich als Vierzehnjähriger auf einmal im Körper eines buckeligen Stummen weiterleben musste. Ich habe vier Jahre gebraucht, bis ich den Mut aufbrachte, mich vor diesen Untoten, den Wechselbalg hinzustellen, und mir von ihm die Kehle durchschneiden zu lassen. Die Kehle des alten Körpers, in dem ich gefangen war. Ich erinnere mich noch an den Schmerz, als ich die Klinge spürte, aber danach erfolgte die Befreiung, und als ich die Augen wieder öffnete, befand ich mich wieder in meinem früheren, jungen Körper und der buckelige Stumme war zu einem unter vielen anderen Geistern geworden, die in mir lebten. Lass mich meinem alten Körper die Kehle durchschneiden, Shane. Lass mich dich befreien, damit du wieder deinen eigenen Körper bewohnen kannst.«
    »Ich will es zurück, ich will mein altes Leben zurück.« Der Alte machte einen wütenden Sprung nach vorne. Der Junge
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