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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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Stimme klang fremd und fern, wie in Trance oder als wäre sie plötzlich in einem Albtraum gefangen.
    Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Komm mit, Geraldine. Lass uns von hier verschwinden.«
    Der alte Mann legte seine Hand besitzergreifend auf Geraldines Schulter. »Du hast sie zu mir gebracht, Joey, wie ich das erwartet habe, und ich bedanke mich bei dir dafür. Aber jetzt verlass mein Haus. Das hier geht dich nichts an. Nur mich und Geraldine.«
    »Sie haben mich missbraucht, um sie hier in die Falle zu locken. Nehmen Sie Ihre Hand von ihr weg.«
    »Geh, Joey«, sagte Geraldine und ihre Stimme klang wie hypnotisiert. »Siehst du nicht, dass ich freiwillig hier bin? Ich könnte dich nie lieben, weil ich schon einen anderen liebe – von dem ich bisher geglaubt habe, ich hätte ihn für immer verloren. Ich hab das alles nicht verstanden, weil ich kein einziges Malmehr mit Shane allein war. Du hast den echten Shane ja nie gekannt. Deshalb kannst du auch nicht wissen, wie er wirklich ist. Aber ich bin mir jetzt ganz sicher, dass es nicht derjenige ist, der hinter dir in der Tür steht.«
    Ich fuhr herum. Hinter mir stand Shane. Er zitterte am ganzen Körper und hatte die Augen weit aufgerissen.
    »Was machst du denn auf einmal hier?«, fragte ich.
    Der alte Mann versuchte aufzustehen, aber Geraldine drückte ihn sanft in den Sessel zurück. Shane schüttelte traurig den Kopf.
    »Ich hab dich gewarnt, Joey. Ich hab dir doch gesagt, dass du Geraldine nicht mit ihm allein lassen sollst. Jetzt siehst du, was du angerichtet hast. Wie eine Spinne webt er jetzt immer dichter und dichter sein Netz um sie herum. Mir graut vor diesem Haus, aber ich bin dir gefolgt, weil ich einfach nicht mit anschauen konnte, wie du allein hier rein bist, und weil ich auch nicht will, dass Geraldine verletzt wird.«
    »Shane würde mich nicht verletzen«, sagte Geraldine.
    »Ich bin Shane«, sagte der Junge hinter mir in der Tür.
    »Bist du nicht.«
    Er drängte an mir vorbei ins Zimmer. »Doch, Geraldine. Ich auch. Wir beide. Das musst du mir glauben. Der Shane, den du damals geliebt hast, steckt in mir genauso wie in dem alten Sack da in dem Sessel.«
    »Du denkst dir schon wieder neue Lügengeschichten aus«, rief ich. »Noch vor einer halben Stunde hast du mir erzählt, das sei alles erstunken und erlogen, um dich über deine Einsamkeit hinwegzutrösten.«
    »Ich hab dir erzählt, was du hören wolltest, Joey, nachdem mir klar geworden war, dass du die Wahrheit niemals verkraften würdest. Ich hätte nie versuchen sollen, dich als Freund zugewinnen. Aber ich fühlte mich tatsächlich allmählich etwas einsam. Jeder, der schon so oft gelebt hat, würde sich bei dem Gedanken, ein weiteres Leben als Einzelgänger zu verbringen, etwas einsam fühlen. Aber ich habe erkannt, dass du nicht mein Freund sein kannst – kein Sterblicher kann das sein. Deshalb verschwinde schleunigst von hier und nimm Geraldine mit. Ich habe diese Auseinandersetzung zu lange gescheut. Das hier betrifft nur ihn und mich, niemand sonst.«
    »Und was verbindet euch?«, fragte ich.
    »Was uns verbindet?« Shane lachte auf. »Wir sind Blutsbrüder. Wir haben dasselbe böse Blut in unseren Adern, das bis in die Zeiten zurückreicht, als hier ringsum noch nichts anderes war als ein schwarzer Felsblock, der die Stadtgrenze von Dublin markierte. Bis in die Zeiten zurück, als der erste Lehrling dieser finsteren Kunst herausfand, wie er dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte, indem er seine Seele in den Körper eines jungen Opfers schmuggelte, immer wieder und wieder, bis unendlich viele Seelen ineinandergeschachtelt waren, so ähnlich wie die Puppen in einer russischen Babuschka. Ich kann dir nicht sagen, wer ich bin, Joey, weil ich keine Einzelperson bin. Ich bin gleichzeitig sechzehn und sechshundert Jahre alt. Ich bin Träger einer Krankheit, die sich Unsterblichkeit nennt. Der alte Mann da mit seinem ausgemergelten Körper sollte schon längst nicht mehr am Leben sein, aber seit zwei Jahren schon bringe ich es nicht über mich, ihn zu töten. Ich habe einen großen Bogen um dieses Haus gemacht, weil ich nicht noch einen weiteren Mord begehen wollte. Es lastet schon genug auf meinem Gewissen.«
    »Gewissen?« Der alte Mann spuckte das Wort angewidert aus. »Wo war denn dein Gewissen, als du meine Mutter und meinen Vater in den Flammen umgebracht hast?«
    »Das war bedauerlich, aber leider notwendig. Du wolltest einen Kampf um Leben und Tod und hier bin ich. Wenn wir
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