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Widerspruch zwecklos oder Wie man eine polnische Mutter ueberlebt

Widerspruch zwecklos oder Wie man eine polnische Mutter ueberlebt

Titel: Widerspruch zwecklos oder Wie man eine polnische Mutter ueberlebt
Autoren: Emmy Abrahamson
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1
    Ich finde das klingelnde Telefon unter einer Tüte mit alten Socken.
    »Hallo, Alicja hier.«
    Es herrscht Stille, als hätte die Person am anderen Ende nicht damit gerechnet, dass jemand drangeht.
    »Alicja?«
    Ich höre an Aussprache und Stimme, dass es eine der sieben Schwestern meiner Mutter sein muss. Schon ihre absurd große Zahl sollte sie zu der Einsicht bringen, dass sie sich besser mit Namen melden würden, trotzdem tun sie es nie. Stattdessen spielen wir das Rate-welche-Tante-dran-ist-Spiel.
    »Jadwiga?«, frage ich, auf die Schwester tippend, die meiner Mutter nach ihrer Lieblingsschwester Halina am nächsten steht.
    Jadwiga lebt in Deutschland und ist mit Klaus-Günter verheiratet, der unter einer Bazillenphobie leidet und keine Türklinke ohne Taschentuch anfassen kann. Als sie uns das letzte Mal besucht haben, wollte er nicht mit mir im selben Zimmer bleiben, weil ich erkältet war.
    »Alicja, kochana .«
    Kochana heißt auf Polnisch »meine Liebste« und lässt mich erstarren. Ich habe das Mitleid in ihrer Stimme gehört und weiß, dass unser Gespräch zu nichts Gutem führen wird.
    »Co u was słychać?« – Was gibt’s Neues bei euch? , frage ich in dem verzweifelten Versuch, das Fürchterliche, das unweigerlich kommen wird, noch etwas hinauszuzögern.
    Stille am anderen Ende. Und dann wieder Tante Jadwigas Stimme: »Urin.«
    Ich sage nichts.
    »Ich habe von deinem Problem gehört«, fährt Tante Jadwiga auf Polnisch fort.
    »Welchem Problem?«, frage ich leise.
    In einem rasenden Gedankenwirbel gehe ich die tausend Dinge durch, die Mutter ihrer Schwester erzählt haben könnte.
    »Dass deine Haut so schlecht ist.«
    Ich spüre, wie ich rot werde. Stimmt, ich habe ein paar Pubertätspickel, aber Tante Jadwiga klingt, als wäre ich der Elefantenmensch.
    »Quatsch, bei mir ist alles in Ordnung«, sage ich mit einem etwas zu lauten Lachen. Ich habe versucht, so normal wie möglich und vor allem wie jemand mit seidenglatter Haut zu klingen. Es kann doch nicht so schwer sein zu verstehen, dass ich darüber nicht reden will, mit ihr nicht und auch mit sonst niemandem.
    Ich höre Jadwiga seufzen.
    »Marek hat auch Pickel. Sein Gesicht sieht aus, als wäre er in Erdbeermarmelade gefallen.« Marek ist mein gleichaltriger Cousin in Polen. »Das Einzige, das wirklich Einzige , was hilft, ist, das Gesicht mit Urin zu waschen.«
    »Mhm«, antworte ich.
    »Einmal morgens und einmal abends, bevor du schlafen gehst.«
    »Mhm.«
    »Mindestens einen Monat lang.«
    »Moment …« Ich tue so, als hörte ich etwas im Zimmer nebenan.
    »Aber du darfst es nicht vergessen. Wenn du es auch nur ein Mal vergisst, nutzt es gar nichts.«
    »Ja …?« Ich tue so, als antwortete ich jemandem im Zimmer nebenan.
    »Jemand ruft nach mir«, sage ich. »Tut mir leid. Aber danke für den Rat. Und grüß Onkel Klaus-Günter! – Pa! «
    Ich halte das Telefon in der Hand und spüre, wie alles in mir kocht. Im Geist notiere ich mir eine weitere Regel, die hilft, eine polnische Mutter zu überleben:
    # 234 Akzeptiere, dass steinalte und deinen normalen Mitmenschen vollkommen unbekannte polnische Hausmittel besser sind als alle noch so wissenschaftlich erprobten Heilmittel, die du in der Apotheke kaufen kannst.
    Meine bisherigen knapp sechzehn Lebensjahre waren voller solcher Hausmittel. Da waren Glasglocken, die sich an meinem Rücken festsaugten, Zwiebelstückchen, die man mir im Alter von drei Jahren gegen Würmer in den Hintern steckte, Kupferarmbänder, die gegen elektromagnetische Strahlen helfen sollten, mir aber nur die Arme grün färbten, und grässlicher stinkender Zwiebelsaft mit Zucker, der dafür sorgte, dass ich beim Husten gleichzeitig würgen musste. Zuletzt musste ich ein halbes Jahr mit halbierten kleinen Gummibällen in den Schuhen herumlaufen, weil das angeblich gegen Plattfüße hilft.
    »Jak mogłaś?«  – Wie konntest du nur? , sage ich, als ich den Tränen nahe in die Küche stürme. Von klein auf haben mein Bruder Rafał und ich mit Mutter Polnisch und mit unserem Vater Schwedisch gesprochen. Mutters Methode, uns Polnisch beizubringen, bestand darin, sich, wenn wir Schwedisch mit ihr sprechen wollten, taub zu stellen.
    Jetzt schaut sie von dem altmodischen Fleischwolf auf, in den sie undefinierbare Brocken Fleisch stopft. Sie befindet sich gerade in einer Hennaphase, ihre Haare sind rostrot und schulterlang, die Nägel hat sie metallicblau lackiert, und an beiden Handgelenken klimpern Silberarmbänder 
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