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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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gern weiter an seine Ideen geglaubt hätte.
    Nur einmal ließ sein Vater seine Maske fallen, eines Abends, als er Shane Gute Nacht sagte. Von seinem unverbesserlichen Optimismus war plötzlich nichts mehr zu spüren und er wirkte so erschöpft, dass Shane ihn fragte: »Dad, warum sind wir eigentlich hierher umgezogen?«
    Sein Vater lag neben ihm auf dem Bett und starrte lange Zeit an die Decke, bevor er antwortete. »Hier ist dein Großvater geboren. Und auch sein Vater und der Vater seines Vaters. Alle sind sie in einem der kleinen Häuschen mit den Lehmwänden geboren worden, die früher entlang der Castledawson Avenuestanden. Die Häuser wurden abgerissen, als die Mönche mehr Platz für das Blackrock College brauchten. Im letzten Jahr, als wir noch in Sallynoggin wohnten, kam jede Nacht die Stimme deines Großvaters zu mir und hinderte mich am Schlaf. Ständig flüsterte er mir zu, dass ich dich nach Blackrock zurückbringen sollte.«
    »Aber warum hier nach Sion Hill, Dad? Wir können uns dieses Haus doch gar nicht leisten.«
    »Weil es manchmal Dinge gibt, die wichtiger sind als Geld. Ich werd das Geld schon irgendwo auftreiben. Ich hab ja nach billigeren Häusern gesucht, aber keines davon lag so hoch.«
    »Aber warum muss es so hoch liegen? Für den Blick aufs Meer zahlen wir doch nur extra.«
    »Der Blick aufs Meer hat damit gar nichts zu tun, Shane. In dem Moment, als ich hier hereinkam, wusste ich: Das ist das Haus, das ich kaufen werde, egal, wie viel es kostet. So hätte dein Großvater es gewollt, denn hier wirst du sicher sein.«
    »Sicher wovor?«
    Shanes Vater wirkte verlegen, er blickte ihn müde an, offensichtlich fand er auch jetzt nicht viel Schlaf. »Sicher davor zu ertrinken, mein Sohn. Ich weiß, das klingt jetzt merkwürdig, aber ich war fest davon überzeugt, wenn wir weiter in Sallynoggin gewohnt hätten, wäre unser Haus vom Wasser überschwemmt worden.«
    »Dad, unser altes Haus lag noch nicht mal in der Nähe eines Flusses.«
    Sein Vater zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es ja alles totaler Blödsinn. Aber ich kriegte das einfach nicht aus meinem Kopf. Jede Nacht, nachdem ich endlich eingeschlafen war, träumte ich, unter den Fundamenten unseres alten Hauses gäbe es ein verborgenes Wasserbecken; und während wir schliefenwürde das Wasser durch den Fußboden sickern und die Stufen hochsteigen. Jede Nacht bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt, im festen Glauben, dass dein Zimmer überschwemmt war und wenn ich dorthin käme, würdest du in deinem Schlafanzug im Wasser treiben, ertrunken und für immer verloren.«

F ÜNFTES K APITEL
    J OEYS M UTTER
    1993
    M usik dröhnt aus den Lautsprechern im Wohnzimmer, als meine Mutter aus dem Schlaf hochschreckt. Sie ist immer noch betrunken. Jede Nacht geht das nun schon so, seit vor drei Monaten mein Vater ums Leben gekommen ist. Jede Nacht bleibt sie bis zum Morgengrauen auf, mit einer Wodkaflasche und den Aufnahmen seines unveröffentlichten Albums als einziger Gesellschaft. Nachts wachzuliegen und seine Stimme zu hören lässt ihr Schauder über den Körper laufen. Die Demotapes bringen ihr nicht wirklich Trost, sondern lassen sie seine Abwesenheit nur noch stärker spüren. Was dazu führt, dass sie noch mehr trinkt, um den Schmerz zu betäuben. Auf dem Couchtisch liegen Plakate, auf denen mein Vater im Scheinwerferlicht zu sehen ist, die Gitarre im Arm. Hinter seinem Namen ist auf den Plakaten »kommt nach …« zu lesen und danach ein freies Feld gelassen. Meine Mutter kann sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie viele Namen von winzigen Spielstätten sie bereits in dieses freie Feld geschrieben hat. Kreuz und quer ist er durch Irland gereist und hat unermüdlich versucht, ein Publikum für seine Musik zu finden, die neuartig war und nur von ihm so gespielt wurde. Er trat nie in großen Sälen auf, außer wenige Male als Support Act, wo ihn die Hälfte des Publikums nicht beachtete. Aber sie weiß noch gut, wie er es fertiggebracht hat, in den Kneipen die Leute zu elektrisieren, weil sie auf einmal eine Musik hörten, die sie noch nie gehört hatten.
    Eine Musik, so beschließt sie, die sie nie mehr hören will, denn wenn sie jetzt fortfährt, diese Kassette immer wieder und wieder anzuhören, wird sie auch weiter allein im Dunkeln Wodka trinken, vor sich hin lallend, mal mehr, mal weniger bei Bewusstsein. Sie wird sich selbst hassen, weil sie eine betrunkene Schlampe geworden ist, eine Säuferin. Sie steht unsicher auf, wankt
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