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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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große Lust, aus dem gemütlichen kleinen Reihenhaus, das in Sallynoggin seit jeher sein Zuhause gewesen war, nach Blackrock zu ziehen. Aber Shane hätte jeden Umzug mitgemacht, wenn danach nur seine Eltern aufgehört hätten, sich zu streiten. Doch der Umzug nach Blackrock setzte dem kein Ende. Jeden Abend wurde ihm ganz mulmig bei dem Gedanken, dass ihre neuen Nachbarn in dem luxuriösen Doppelhaus die ständigen Auseinandersetzungen um Geld und Rechnungen womöglich mit anhören mussten. Tagsüber bewirkten dieses mulmige Gefühl und seine angeborene Schüchternheit, dass er immer mit leicht gesenktem Kopf herumlief und jeden Blickkontakt vermied, wenn er die gepflegten Grünanlagen durchquerte, die zwischen das teure Neubauviertel am Sion Hill und das ständige Rauschen des Verkehrs auf der Rock Road geschoben waren. Die neuen Nachbarn im Viertel beobachtete er deshalb meist nur aus der Ferne, wenn sie mit ihren BMW s und SUV s auf den reservierten Plätzen parkten und daraus mit Designerlabel-Einkaufstüten aus dem Frascati Center ausstiegen. Manchmal hatten sie Kinder und Jugendliche im Schlepptau, in Ugg-Boots und Abercrombie-Hoodies und mit so perfekten Zähnen, alshätten sie schon im Mutterleib Zahnspangen getragen. Es folgte der typische Blickwechsel, bei dem blitzschnell alles abgecheckt wurde, aber darüber hinaus hatte er mit ihnen keinen Kontakt.
    Zwischen Sallynoggin und Blackrock lagen nur drei Meilen. Viele Arbeiterfamilien – darunter auch Shanes Großeltern – stammten ursprünglich aus Blackrock und waren nach Sallynoggin gezogen, als dort vor einem halben Jahrhundert neue, billige Wohnungen gebaut worden waren. Aber Shane hatte den Eindruck, dass in Blackrock von dieser Vergangenheit, vom Leben der Arbeiter überhaupt keine Spuren mehr geblieben waren. Sogar die schmalen Reihenhäuser im Stil viktorianischer Cottages, nicht weit entfernt vom Meer, waren geschmackvoll modernisiert und für ganz andere Bedürfnisse hergerichtet worden. Aus beengten Schlafzimmern, in denen früher die Kinder zu viert oder fünft in den Betten geschlafen hatten, immer Kopf und Füße abwechselnd nebeneinander, waren Büros von Architekten geworden oder Behandlungszimmer von Ärzten, die sich der ganzheitlichen Medizin verschrieben hatten. Egal, wohin Shane in diesen ersten Wochen ging, überall in Blackrock entdeckte er die Spuren von Wohlhabenheit, diskret versteckt oder unverschämt zur Schau gestellt. Alle, die dort wohnten, schienen viel Geld zu haben. Nur seine Eltern nicht. Dafür konnten die neuen Nachbarn natürlich nichts, aber er achtete sorgfältig darauf, dass sie ihm nicht zu nahe kamen. Sie wirkten eigentlich sehr nett, wie sie da in ihren großen Autos ankamen und wegfuhren. Trotzdem hatte er immer das Gefühl, dass sie ihm nur signalisieren wollten, er selber sei nicht so nett wie sie und gehöre mit seinen Eltern eigentlich nicht in das Neubauviertel am Sion Hill.
    Der einzige Jugendliche, den er dort näher kennenlernte, war Simon Wallace, ein paar Jahre älter als er. Aber auch ihreGespräche, wenn sie sich zufällig mal begegneten, waren eher halbherzig. Simon, der ein etwas schräger Typ war, redete mit Shane nur deshalb auf seine ziemlich blasierte Weise, weil er niemanden sonst hatte. Er war stets angezogen, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er eher auf dem Gothic- oder dem Emo-Trip war, und behauptete, der Leadsänger einer Band zu sein, die viel zu avantgardistisch war, um für Auftritte gebucht zu werden. Angeblich probten sie regelmäßig in einer Garage, die der reiche Vater ihres Schlagzeugers extra für sie umgebaut hatte. Shane und Simon wechselten jedes Mal, wenn sie sich begegneten, ein paar Worte miteinander und Shane fühlte sich dabei immer etwas verlegen. Einmal lud Simon ihn ein, mit ihm doch eine Flasche Southern Comfort zu trinken, und ließ wie nebenbei fallen, er wüsste ganz in der Nähe einen großartigen Ort für Besäufnisse, wo niemand sie stören würde. Aber Shane ging nicht darauf ein. Er trank keinen Alkohol und hatte keine Lust, sich einen ganzen Nachmittag lang anhören zu müssen, wie Simon damit prahlte, wegen Drogenbesitz fast von der Schule geflogen zu sein und dass nur die guten Beziehungen seiner Eltern dies verhindert hatten.
    Shane wollte seinen Eltern lieber keinen Ärger machen, weil sie sowieso schon genug Ärger hatten. Er wusste, dass seine Eltern ihn beide liebten, aber seit einem Jahr waren sie ständig so gestresst, dass sie sich nur
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