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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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Zähne quälen.
    Doch diesmal wird die Heimfahrt vor ihrem Ziel enden. Mir gefällt die Vorstellung, dass mich um zwei Uhr früh ein schwaches Echo des Unfalls weckt. Ein Geräusch, das nur ein Baby hören kann: der Ton, der durch die Luft fährt, wenn die eigene Zukunft völlig umgekrempelt wird. Nimmt Dad die Hand vom Steuerrad, um die Musik noch lauter zu drehen? Blickt er auf und merkt plötzlich, dass hinter der Kurve etwas die Straße blockiert – ein Schaf, das sich verlaufen hat, ein alter Mann mit einem schwarzen Hut, der mit einem Stock fuchtelt, oder vielleicht auch der Geist von Henry Dawson, der ausder verlassenen Hellfire Lodge stürmt und lauthals schreit: »Ist meine Seele wirklich verdammt?«
    So male ich es mir immer aus, aber mit Sicherheit weiß ich nur zwei Dinge: erstens, dass Hunderte von Glassplittern über den Asphalt verstreut werden, als Dad bei dem Aufprall durch die Windschutzscheibe geschleudert wird. Ich mag die Vorstellung, dass jeder Splitter ein anderes Bild von ihm reflektiert, sodass während der unendlichen Dauer der wenigen Sekunden, bis die Windschutzscheibe völlig zersplittert ist, eine Art Diashow mit Bildern von ihm auf die Straße herabregnet.
    Und zweitens, dass der Kassettenrekorder immer noch läuft – obwohl von seinem Auto an dem Stück Waldrand, hinter dem der Hellfire Club liegt, nur noch ein zusammengepresster Schrotthaufen übrig ist. Denn als ein Motorradfahrer dort zufällig vorbeikommt und die Leiche meines Vaters findet, unweit des Gipfels des Montpelier Hill, ist ringsum alles still, bis auf die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnt. Es sind die Lieder, nach denen ich mich meine ganze Kindheit lang sehnen werde. Doch ich werde sie nie zu hören bekommen. Der Versuch meines Vaters, Unsterblichkeit zu erlangen, war vergeblich.

D RITTES K APITEL
    J OEY
    S EPTEMBER 2009
    D u schaffst das, Joey, sagte ich zu mir. Kein Grund zur Panik, du darfst dir nur nicht anmerken lassen, dass du Angst hast. Du bist nicht der erste Junge auf der Welt, der einen überfüllten Schulflur entlanggehen muss und dann hinein in ein Klassenzimmer, in dem lauter Fremde sitzen. Aber ich hatte Angst. Denn ich wechselte nicht nur die Schule, ich hoffte, dass sich mein ganzes Leben ändern würde. Es war eine Woche nach meinem sechzehnten Geburtstag. Ich hatte eine neue Schuluniform, eine Schultasche voll mit neuen Büchern und den Kopf voll mit schlechten Erinnerungen an mein früheres Klassenzimmer. In meiner alten Schule war ich immer gemobbt und verspottet worden, aber hier im Stradbrook College würde ich es nicht mehr so weit kommen lassen. Ich würde mich besser beherrschen. Das hatte ich mir fest vorgenommen. Doch mit meinem Plan war es aus und vorbei, sobald ich Shane O’Driscoll näher kennenlernte.
    Selbst wenn ich der coolste Junge im ganzen Universum gewesen wäre, hätte es mich nervös gemacht, ein Klassenzimmer voller fremder Gesichter betreten zu müssen, voller Leute, die sich untereinander bereits kannten, ihre gemeinsamen Scherze hatten und wo jeder von jedem den Spitznamen wusste. Aberich war nicht cool: Ich war der uncoolste Junge, den ich kannte. Als Gott die Coolness verteilte, muss ich wohl gerade auf dem Klo gewesen sein. Oder vielleicht stand ich im Himmel auch in der Schlange an, wo all die Nasen anstehen, die sich beschweren wollen, weil sie mit ihrem Aussehen zu kurz gekommen sind.
    Ein Schwarm von Gesichtern wandte sich mir zu, um mich zu mustern. Aha, ein neuer Mitschüler. Ich versuchte, meine Nervosität zu verbergen. Die Blicke waren eher abschätzig als neugierig. Aber auch nicht wirklich feindselig. Ich war offensichtlich zu normal, als dass sie meinetwegen ihre aufgeregten Gespräche am ersten Schultag nach den Sommerferien unterbrochen hätten. Bereits jetzt konnte ich ein paar Cliquen in der Klasse ausmachen. In der einen Ecke trösteten sich ein paar Möchtegern-Gothic-Fans gegenseitig, dass sie wieder Schuluniform tragen mussten. In der anderen verglichen mehrere Sportskerle die Aufschürfungen, die sie sich bestimmt bei einem Rugbyspiel geholt hatten, tauschten ihre Erfahrungen mit Vitaminpräparaten aus, Rezepte zum Muskelaufbau und protzten mit ihren angeblichen sexuellen Eroberungen. Zwei mögliche Bewerber um den Preis für den Nachwuchswissenschaftler des Jahres studierten ein Blatt Papier, bei dem es sich entweder um ein altes Physikprotokoll oder um die Bastelanleitung für eine selbst gebaute Atombombe handelte. Aber die große
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