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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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dir ganz bestimmt nicht. Pass auf deine Seele auf, Thomas! Wenn sie dir nämlich einmal gestohlen worden ist, wirst du sie nie mehr wirklich besitzen.«

Z WEITES K APITEL
    J OEYS V ATER
    1993
    M usik dröhnt aus den Lautsprechern im Auto meines Vaters. Er tritt aufs Gaspedal. Nicht das hirnlose Hämmern von Synthesizern ist zu hören oder das wie fremdgesteuert wirkende Trällern cleverer Blondinen, die von geistig beschränkten Männern gemanagt werden. Sondern der Rohschnitt von Liedern aus seinem Debütalbum, an dem er schon so lange arbeitet. Auf seinen langen Fahrten zu uns nach Hause, nach Blackrock, umgibt er sich gern mit den Klängen seiner noch unfertigen Stücke; im Kopf verbessert er die Musik und die Texte, seine Gedanken rasen, während er ungeduldig eine scharfe Kurve nach der anderen nimmt. Solche nächtlichen Autofahrten gehören zum täglich Brot eines Musikers, er kennt viele solche Straßen wie die verlassene Landstraße, auf der er in dieser Nacht durch die Berge in Richtung Dublin braust. Er beschleunigt noch weiter. Die Katzenaugen, die ihm rechts und links aus der Dunkelheit entgegenleuchten, geben ihm das Gefühl inmitten eines Computerspiels zu sein.
    Er kommt von einem Auftritt in einem der hintersten Winkel von Wicklow, in einem tief eingeschnittenen Tal. Mit seiner Gitarre hat er es kaum geschafft, das unablässige Wummern der Karaoke-Maschine in der Bar neben dem Saal zu übertönen.Dreißig enthusiastische Fans hatten sich nach dem Konzert um ihn gedrängt und wissen wollen, wann sein Album New Town Soul denn nun endlich erscheinen würde. Das Magazin Hot Press hat es bereits als interessantestes Debüt des Jahres bezeichnet. Aber Hot Press hat sein Album bereits seit drei Jahren zum vielversprechendsten Debüt erklärt. Mehrere Plattenfirmen haben ihn unter Vertrag genommen und irgendwann wieder abgestoßen. Keine davon schaffte es, ihm die Mastertapes zu entreißen. Dad kann seinen Fans kein Erscheinungsdatum nennen, weil er dauernd weiter an den Stücken herumbastelt, auf der Suche nach dem perfekten Sound, der ihm die Unsterblichkeit garantieren soll. Er will sich mit nichts zufriedengeben, erst wenn er sicher sein kann, dass mit dem perfekten Sound seine Stimme für immer fortlebt – wie es bei Kurt Cobain war, bevor er sich erschossen hat; wie bei Sam Cooke und Marvin Gaye, bevor andere sie erschossen haben; wie bei Buddy Holly und Richie Valens, bevor sie unklugerweise schrottreife Flugzeuge bestiegen; wie bei Jimi Hendrix, bevor er an Erbrochenem und Wein erstickte; wie bei Jim Morrison, bevor das Heroin ihm das Gehirn und die Adern verklebte; wie bei Phil Lynott, in Dublin berühmt und verehrt, bevor er an seinen Fußsohlen keine Ader mehr finden konnte, um sich dort eine Spritze zu setzen; wie es bei den anderen Unsterblichen war, deren Musik mein Vater immer hörte, überzeugt davon, dass er eines Tages auch zu ihnen zählen würde.
    Wenn er New Town Soul herausbringt, das weiß er, werden zehnmal so viele Leute zu seinen Konzerten kommen. Aber an diesem Abend ist er schon froh, dass ein paar Dutzend Hardcore-Fans gekommen sind, um sein Work in Progress zu hören. Sein unvollendetes Meisterwerk. Die Landstraße ist finster, aber mein Vater hat keine Lust, Geld, das wir nicht haben, für eineÜbernachtung in einem Hotel zu vergeuden. Noch vor der Morgendämmerung kann er es zurück zu unserem winzigen Cottage schaffen. Er kennt sämtliche Abkürzungen nach Hause, von all den Fahrten nach seinen unzähligen Auftritten. Gleich wird er an den Ruinen des Hellfire Clubs vorbeikommen, wo einst die Wüstlinge sich betrunken und auf den Teufel angestoßen haben. Kurz darauf folgt die Abzweigung nach Tibradden. Von dort wird ihn eine Kette aus Neonlichtern hinunter nach Whitechurch geleiten und dann die Blackglen Road entlang, am Sandyford Industrial Estate und der N 11 vorbei, auf die Newtownpark Avenue in Blackrock. Von dort braucht er nur noch nach links in die Frascati Road und danach in die Temple Road abzuzweigen. Er wird schwungvoll in die Hauptstraße von Blackrock abbiegen, die direkt auf das Meer zuführt und die verlassenen Bäder, nur wenige Hundert Meter hinter den Bahngleisen. Und schließlich wird er in die Brusna Cottages einbiegen – die schmale Einbahnstraße, wo meine Mutter in einem Kingsizebett auf ihn wartet, das so groß ist, dass in dem vollgestopften kleinen Schlafzimmer kaum noch Platz für die Wiege ist, in der ich unruhig schlafe, weil mich meine ersten
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