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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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Mehrheit meiner neuen Klassenkameraden am Stradbrook College wirkte ziemlich entspannt. Es handelte sich um eine multireligiöse und ethnisch gemischte Schule. In meiner neuen Klasse schienen alle Richtungen vertreten zu sein – bis auf ein Mädchen oder einen Jungen, denen vielleicht die Musik gefiel, die ich gern spielte. Ich war Experte, was den Musikgeschmack von allen betraf, die sich hier im Raum befanden, weil ich in den vergangenen beiden Wochen sämtliche Facebook-Accounts der Klassegeknackt hatte. Und das bedeutete, dass ich genau wusste, wer mit wem zusammen war, wer nicht mehr mit wem zusammen war und wer am liebsten mit wem zusammen gewesen wäre. Das Internet war voll mit so vielen Fotos von allen in meiner neuen Klasse und von den Partys, auf denen sie sich den ganzen Sommer über herumgetrieben hatten, dass ich von den meisten sogar bereits den Namen wusste.
    Mit mir wäre das umgekehrt nicht möglich gewesen, denn selbst wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, meinen Namen zu googeln – er wäre nicht fündig geworden. Auf Facebook war ich nicht mehr, da hatte ich meine Seite vor ein paar Monaten löschen lassen. Es war gar nicht mal das ständige Cyber-Mobbing in meiner alten Schule, was mich so weit gebracht hatte, sondern die ätzende Vorhersehbarkeit der immer gleichen Beschimpfungen. Sogar wenn es darum ging, einen anderen Jungen – wir waren eine reine Jungsschule! – richtig fertigzumachen, besaß kein einziger genug Intelligenz, um dort einen wirklich originellen Kommentar abzugeben. Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht. Ich war in meiner alten Schule nicht der krasse Außenseiter gewesen. Mit meiner unbeholfenen Art war ich eigentlich gar nicht unbeliebt. Oder zumindest hatte ich nie große Schwierigkeiten mit den anderen gehabt. Das änderte sich erst nach meinem Auftritt bei dem Wettbewerb. Ich hatte gelernt, mich unauffällig an den Rändern der Cliquen zu bewegen, sodass es immer wirkte, als ob ich dazugehörte. Aber in Wirklichkeit gehörte ich nirgendwo so richtig dazu, und dabei war ich nicht einmal ein Streber oder so was. Ich passte einfach nie so richtig ins Bild, weil meine Klassenkameraden in meiner alten Schule mich zu Tode langweilten. Sie interessierten sich nur für Fußball und ihre Garagenbands und dafür, wie sie die Kopien drittklassiger, lahmer, überhaupt nichtpunkiger oder punk-rockiger Rapper liefern konnten. Trotzdem kam ich immer so halbwegs durch, obwohl mich die meisten in meiner Klasse für leicht bekloppt hielten und ich sie für eine Versammlung von Idioten, schwachsinnig, aber harmlos. Doch das war nur bis zu dem Wettbewerb so, danach fingen sie mit dem Mobbing an. Jeder von ihnen führte sich wie der Leithammel auf, aber sie waren einfach nur eine Schafherde. Alle miteinander trampelten sie in den letzten Monaten an meiner alten Schule unablässig auf mir herum.
    Deshalb hatte ich mir geschworen, dass ich mich im Stradbrook College niemals mehr so zum Affen machen würde. Ich wollte auf keinen Fall auffallen. Wozu allerdings auch kaum Gefahr bestand, denn nur wenige beachteten mich, als ich etwas zögerlich in der Tür stand. Die meisten hatten nur kurz zu mir hingeblickt und sahen dann gleich wieder weg. Nur ein Mädchen mit kohlrabenschwarzen Haaren lächelte mir von ihrem Platz direkt am Fenster einen schüchternen Willkommensgruß zu. Ich lächelte zurück, sie lächelte noch breiter und schaute danach zum Fenster hinaus. Ihr Gesicht war mir von keinem Facebook-Foto bekannt, aber ihr Lächeln reichte aus, um mein schwankendes Selbstbewusstsein zu stärken, als ich überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Mich einer der Gruppen anschließen? In der Hoffnung, dass man mich vielleicht akzeptierte? Oder mein Lager an dem verführerischen freien Platz am Fenster aufschlagen, hinter dem schwarzhaarigen Mädchen? Wo ich dann unglaublich eifrig meine Bücher herausholen würde, um zu überspielen, wie nervös ich war?
    Ich wollte gerade auf den leeren Platz am Fenster zusteuern, als die Stimmung sich plötzlich änderte. Alle blickten auf einmal wieder in meine Richtung. Ich war es nicht gewohnt, angestarrt zu werden, und musste mich stark zusammennehmen,um nicht zu deutlich nach unten auf meinen Hosenschlitz zu schauen, ob er vielleicht offen stand. Oder hatte mir schon an meinem ersten Tag irgendein Witzbold »Opfer« auf die Stirn geschrieben? Aber es wirkte nicht, als würden sie sich über mich lustig machen wollen. Vor allem die
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