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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen
Autoren: Dermot Bolger
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Mädchen signalisierten mir durch ihre Blicke, dass sie mich unglaublich gern kennenlernen wollten, und ich kam mir richtig smart und sexy vor. Das Gefühl kannte ich nicht und ich begriff nicht, was auf einmal diesen Wandel ausgelöst hatte. Nur ein Mädchen beteiligte sich nicht: das Mädchen mit den kohlrabenschwarzen Haaren. Sie schaute mich nur noch einmal kurz an, diesmal ohne zu lächeln, beinahe als sähe sie einen Geist.
    Dann wurde mir durch eine leichte Bewegung hinter mir klar, dass die Klasse gar nicht mich anschaute. Sie sahen alle durch mich hindurch, als wäre ich Luft.
    Ihre Augen waren auf einen Jungen in einer schwarzen Lederjacke gerichtet, der gerade den Raum betrat. Er schien weder besonders sportlich noch besonders hübsch zu sein, aber er hatte etwas an sich, lächelte so selbstbewusst und als ob ihm im Leben nichts etwas anhaben könnte, dass auch ich davon wie gebannt war. Er wirkte, als hätte er bereits alles gesehen und sich entschieden, das T-Shirt mit dem coolen Spruch trotzdem nicht zu kaufen, weil er es nicht nötig hatte, damit anzugeben. Er muss der Anführer hier in der Klasse sein, dachte ich; er hat alles, was es dazu braucht. Wenn sie mich mobben, dann wird er derjenige sein, der die anderen dazu anstachelt. Aber ich würde hier nicht gemobbt werden, denn dieser Junge würde nicht zulassen, dass in seiner Klasse so etwas geschah. Wäre ihm viel zu blöd. Und alle würden es dann machen wie er und mich einfach ignorieren. Genau das tat er nämlich, als er sich jetzt an mir vorbeischob.
    Aber als er dann zu reden anfing, merkte ich, dass keiner im Raum wusste, wer er war. Außer dem schwarzhaarigen Mädchen vielleicht, das sich schnell wegdrehte. Alle anderen, das spürte ich, waren von seinem Auftreten genauso gebannt wie ich.
    »Ich bin Shane O’Driscoll«, verkündete er ruhig. »Ich bin der Neue. Hab gehört, dass es bei euch so ein Aufnahmeritual gibt und jeder erst mal ein lebendiges Huhn opfern muss.«
    Gelächter. Ein Mädchen fragte ihn, wo er denn seine Lederjacke herhätte.
    »Hab ich von einem polnischen Seemann geklaut, im Captain Americas in Dún Laoghaire. Der arme Kerl läuft jetzt im Blazer von meiner alten englischen Schule rum.« Shane drehte sich zu mir um, als hätte er erst jetzt gemerkt, dass ich auch da war. »Alles in Ordnung bei dir? Willst du hier Wurzeln schlagen? Oder bist du mit dem Türrahmen verheiratet?«
    »Nein, ist unser erstes Date.«
    Erleichtert stellte ich fest, dass alle in der Klasse lachten, weil er lachte.
    »Ich warn dich aber, sie kann recht hölzern sein.«
    Shane schlenderte zu dem Platz, zu dem ich gerade gewollt hatte, und blickte dann noch einmal zu mir rüber.
    »Wie war noch mal dein Name?«
    »Joey. Joey Kilmichael.«
    »Du sitzt nicht zufällig hier am Fenster, Joey, oder?«
    »Nein«, sagte ich, »aber ich …«
    »Cool. Dann setz ich mich hier hin.« Das schwarzhaarige Mädchen kehrte ihm den Rücken zu, als er es sich auf dem Platz hinter ihr bequem machte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir ganz hinten im Klassenzimmer einen Platz zu suchen. Shane O’Driscoll schien die verkrampfte Haltung des Mädchens zu bemerken.
    »Wie geht’s denn so, Geraldine?«, fragte er.
    Sie beachtete ihn nicht. Shane zuckte leicht amüsiert mit den Schultern und genoss den Blick aus dem Fenster, auf den ich mich schon gefreut hatte. Er machte sich nicht die Mühe, so zu tun, als sei er beschäftigt. Er wirkte total entspannt, als wäre ein Schulwechsel für ihn eine seiner leichtesten Übungen. Obwohl er zuletzt eine Schule in England besucht hatte, hatte er einen Dubliner Akzent, und ich fragte mich, was da wohl dahintersteckte. Eigentlich hätte ich sauer auf ihn sein müssen, weil er mir den Platz am Fenster weggeschnappt hatte. Stattdessen beneidete ich ihn, weil er so cool und selbstbewusst war, wie ich das nie sein würde. Shane strahlte etwas aus, das auch mein Vater ausgestrahlt haben musste, jedenfalls erzählten mir das die Leute so. Er machte den Eindruck, viel älter als sechzehn zu sein und sich für alles zu interessieren, aber durch nichts beeindrucken zu lassen. Nie würde ich so sein wie er, da brauchte ich mir gar nichts vorzumachen. Deshalb hatte ich in diesem Augenblick nur einen Wunsch – dass Shane sich aus irgendeinem Grund als vielleicht etwas beschränkten, aber treuen Freund mich aussuchen würde.

V IERTES K APITEL
    S HANE
    J UNI 2007
    I n dem Sommer, als er vierzehn wurde, hatte Shane O’Driscoll keine
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