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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Autoren: Howard Jacobson
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EINS
    1
    Er hätte es kommen sehen müssen.
    Sein Leben war ein Missgeschick in Serie, also hätte er damit rechnen müssen.
    Er war jemand, der Dinge kommen sah. Keine vagen Ahnungen kurz vor oder nach dem Schlaf, sondern echte, drohende Gefahren in der taghellen Welt. Laternenpfähle und Bäume drängten sich ihm in den Weg, brachen ihm die Schienbeine. Fahrer verloren die Kontrolle über ihre Wagen, rasten auf den Bürgersteig und ließen von ihm nur einen Haufen kaputter Knochen und zerrissenen Gewebes übrig. Scharfe Gegenstände fielen von Gerüsten und bohrten sich in seinen Schädel.
    Mit Frauen war es am schlimmsten. Kreuzte eine Frau, die Julian Treslove schön fand, seinen Weg, bekam dies nicht sein Körper, sondern sein Geist mit voller Wucht zu spüren. Sie raubte ihm die Ruhe.
    Sicher, er kannte gar keine Ruhe, doch sie brachte ihn selbst um jede Ruhe, die er sich für die Zukunft erhofft haben mochte. Sie war die Zukunft.
    Wer sehen kann, was kommt, der hat Probleme mit dem Zeitgefüge, mehr nicht. Tresloves Uhren gingen ausnahmslos falsch. Kaum sah er eine schöne Frau, sah er, was nach ihr kam – seinen Heiratsantrag, den sie annahm, das Heim, das sie sich gemeinsam einrichteten, die schweren, zugezogenen Brokatvorhänge,
durch die purpurrotes Licht sickerte, wolkenweich aufgeschüttelte Betten, wohlriechenden Rauch, der aus dem Schornstein wehte –, und dann den Trümmerhaufen: reihenweise karmesinrote Dachziegel, Giebel und Gauben, sein Glück, seine Zukunft, all das brach bereits in jenem Augenblick krachend über ihm zusammen, in dem sie an ihm vorüberging.
    Sie ließ ihn nicht wegen eines anderen sitzen, sagte auch nicht, sie könne ihn oder ihr gemeinsames Leben nicht mehr ertragen, sie schied dahin in einem perfektionierten Traum tragischer Liebe, trällerte ihm schwindsüchtig und augenwimpernfeucht ihr Lebwohl mit Liedfetzen aus beliebten italienischen Opern zu.
    Von einem Kind keine Spur. Kinder verdarben die Geschichte.
    Zwischen aufdringlichen Laternenpfosten und plötzlich herabfallendem Mauerwerk ertappte er sich gelegentlich dabei, wie er seine letzten Worte an sie probte – meist gleichfalls beliebten italienischen Opern entliehen –, als wäre die Zeit zusammengeschnurrt, sein Herz zersprungen, und so starb sie, noch ehe sie sich kennenlernten.
    Diese Ahnung, dieser prophetische Anblick einer geliebten Frau, die in seinen Armen dahinschied, das fand Treslove einfach bezaubernd. Manchmal starb er in ihren Armen, aber schöner war’s, sie starb in seinen. Dann wusste er, dass er sie liebte: kein Heiratsantrag ohne eine Vorahnung ihres Dahinscheidens.
    Soweit die lyrische Version seines Lebens. Im wirklichen Leben hatten ihm noch alle Frauen vorgeworfen, er unterdrücke ihre Kreativität – um ihn dann zu verlassen.
    Im wirklichen Leben gab es sogar Kinder.
    Doch gab es da noch etwas jenseits des wirklichen Lebens, das ihn lockte.
     
    Auf einer Klassenfahrt nach Barcelona bezahlte er eine Zigeunerin dafür, ihm aus der Hand zu lesen.

    »Ich sehe eine Frau«, sagte sie.
    Aufgeregt fragte Treslove: »Ist sie schön?«
    »Find ich nicht«, antwortete die Zigeunerin, »aber in deinen Augen … vielleicht. Und ich sehe Gefahr.«
    Tresloves Aufregung wuchs. »Woher weiß ich, dass sie die Richtige ist?«
    »Du wirst es wissen.«
    »Hat sie einen Namen?«
    »Namen kosten eigentlich extra«, sagte die Zigeunerin und bog seinen Daumen nach hinten. »Aber weil du so jung bist, mache ich für dich eine Ausnahme. Ich sehe eine Juno – kennst du eine Juno?«
    Bei ihr klang es wie Huno, aber nur, wenn sie den Akzent nicht vergaß.
    Treslove kniff ein Auge zu. Juno? Kannte er eine Juno? Kannte irgendwer eine Juno? Nein, schade, er jedenfalls nicht. Allerdings kannte er eine June.
    »Nein, nein, keine June, markanter.« Es schien sie zu ärgern, dass er mit keinem ausgefalleneren Namen als June dienen konnte. »Judy … Julie … Judith. Kennst du eine Judith?«
    Hudith.
    Treslove schüttelte den Kopf. Aber ihm gefiel, wie es sich anhörte – Julian und Judith. Hulian und Hudith Treslove.
    »Tja, jedenfalls wartet sie auf dich, diese Julie, Judith oder Juno … Ich glaube immer noch, es ist eine Juno.«
    Treslove kniff nun auch das andere Auge zu. Juno, Juno …
    »Wie lang wird sie warten?«, fragte er.
    »So lang, wie du brauchst, sie zu finden.«
    Treslove stellte sich vor, wie er die sieben Meere nach ihr absuchte. »Und was ist mit der Gefahr? Wieso ist sie gefährlich? «
    Er sah, wie
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