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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Autoren: Howard Jacobson
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trauern musste?
    Sollte das der Grund sein, warum Treslove so oft allein war? Sperrte er sich gegen das ersehnte Glück der Gemeinsamkeit, weil er Angst davor hatte, wie er sich fühlen mochte, wenn es ihm genommen wurde? Oder war der gefürchtete Verlust eben jenes Glück, nach dem es ihn verlangte?
    Dieses Nachdenken über die Ursache seiner Tränen ließ ihn nur noch mehr weinen.
    Sam Finkler, der Dritte im Bunde, vergoss bei Libors Klavierspiel nicht eine einzige Träne. Der schockierend frühzeitige
Tod seiner Frau – ein grausamer Zufall, dass es im selben Monat geschah, in dem auch Libor zum Witwer wurde – hatte ihn eher wütend als traurig zurückgelassen. Tyler hatte Sam nie gesagt, dass er ihre »Erfüllung« sei, dennoch hatte er sie mit erwartungsvoller, gar aufmerksamer Zuneigung von Herzen geliebt – was für ihn nicht ausschloss, dass er sich nebenher anderen Zuneigungen hingab –, so als hoffte er, sie würde sich eines Tages dazu herablassen, ihm ihre wahren Gefühlen zu gestehen. Das hatte sie nie getan. In der letzten Nacht saß Sam an ihrem Bett. Einmal bat sie ihn näher zu kommen. Er tat wie geheißen, legte ein Ohr an ihre verdorrten Lippen, doch falls sie vorgehabt hatte, ihm etwas Zärtliches zu sagen, gelang es ihr nicht. Ein schmerzliches Keuchen war alles, was er hörte, ein Laut, der ebenso gut seiner eigenen Kehle entwichen sein konnte.
    Ihre Ehe war gleichfalls liebevoll, wenn auch etwas unfriedlicher als die von Libor und Malkie verlaufen – und auch fruchtbarer, jedenfalls wenn man damit Kinder meinte. Sam hatte seine Frau allerdings stets zurückhaltend und irgendwie verschlossen gefunden. Vielleicht treulos, er wusste es nicht. Womöglich hätte es ihm nichts ausgemacht. Nun aber waren ihre Geheimnisse mit ihr begraben, wie man so sagt. Es gab Tränen in Sam Finkler, doch wachte er darüber so aufmerksam wie einst über seine Frau. Er wollte sicher sein, dass er, wenn er weinte, aus Liebe weinte und nicht aus Verbitterung. Also zog er es vor – zumindest bis er seine Trauer besser kannte –, überhaupt nicht zu weinen.
    Außerdem hatte Treslove genügend Tränen für sie alle.
     
    Julian Treslove und Sam Finkler waren zusammen zur Schule gegangen und eher Rivalen als Freunde gewesen, aber auch Rivalität kann ein Leben lang verbinden. Finkler war der Klügere von beiden. Damals wollte er nur Samuel genannt werden. »Ich heiße Samuel, nicht Sam. Sam heißen Privatdetektive, Samuel war ein Prophet.«

    Samuel Ezra Finkler – wie sollte man mit so einem Namen nicht der Klügere sein?
    Und zu Finkler war Treslove in heller Aufregung gerannt, nachdem ihm in Barcelona die Zukunft geweissagt worden war. Treslove und Finkler teilten sich ein Zimmer. »Juno? Kennst du eine Juno?«, fragte Treslove.
    »Kennst du eine Juno?«, wiederholte Finkler die Frage, wobei er das J merkwürdig zwischen den Zähnen hervorstieß.
    Treslove kapierte nicht.
    »Kennst du eine Juno? Das fragst du mich?«
    Treslove kapierte immer noch nicht. Also schrieb Finkler es für ihn auf: »D’jew know Jewno? Kennt Jud einen Jud nich?«
    Treslove zuckte mit den Achseln. »Findest du das witzig?«
    »Ich schon«, sagte Finkler. »Aber jedem das Seine.«
    »Findet ein Jude es witzig, das Wort Jude aufzuschreiben? Ist das komisch?«
    »Vergiss es«, antwortete Finkler. »Du würdest es doch nicht kapieren.«
    »Warum nicht? Wenn ich ›Nicht-Jud kennt keinen Jud nich‹ schriebe, könnte ich dir sagen, was daran komisch ist.«
    »Daran ist aber nichts komisch.«
    »Eben. Nicht-Juden finden es nämlich nicht witzig, das Wort Nicht-Jude geschrieben zu sehen. Wir finden es einfach nicht erstaunlich, unsere Identität schriftlich festgehalten zu wissen.«
    »Und Jud weiß nich, warum das so ist?«, fragte Finkler.
    »Du kannst mich mal«, erwiderte Treslove.
    »Das soll jetzt wohl nicht-jüdischer Humor sein, wie?«
    Ehe er Finkler kennenlernte, hatte er keinen Juden gekannt. Zumindest nicht wissentlich. Er hatte angenommen, Juden seien wie das Wort Jude – klein, dunkel, irgendwie kompakt. Geheimniskrämerische Leute. Dabei war Finkler fast apfelsinenfarben und platzte nahezu aus allen Nähten. Er hatte etwas Maßloses an sich, ein vorstehendes Kinn, lange Arme und riesige Füße,
für die er selbst mit fünfzehn nicht ohne Weiteres Schuhe fand. (Treslove hatte einen Blick für Füße, seine waren zierlich wie die eines Tänzers.) Mehr noch – und alles an Finkler war ein wenig mehr –, er hatte eine irgendwie
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