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Der Rabbi schoss am Donnerstag

Der Rabbi schoss am Donnerstag

Titel: Der Rabbi schoss am Donnerstag
Autoren: Harry Kemelman
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    Wenn ihr Mann eine Predigt vorbereitete, war Miriam stets sorgsam bedacht, ihm nicht über den Weg zu laufen – nicht, weil sie fürchtete, ihn in seinen Gedankengängen zu stören, sondern weil sie ihm keinen Vorwand für die Unterbrechung seiner Arbeit liefern wollte. Denn für David Small, den Rabbi der Konservativen Synagoge von Barnard’s Crossing, war weder die Vorbereitung noch das Halten einer Predigt ein besonderes Vergnügen. Er hatte wie üblich damit begonnen, sich Papier zurechtzulegen, Bleistifte zu spitzen, die Lampe näher zu rücken – alles, um das Ringen um den Anfang hinauszuzögern. Er war mager und bleich, und wie er da an seinem Schreibtisch saß, hielt er die Schultern gebeugt, wie es für Gelehrte typisch ist. Sein schütteres Haar, das an den Schläfen bereits ergraute, machte ihn nur älter, nicht distinguierter. Er schrieb ein paar Worte, dann betrachtete er sie kurzsichtig durch seine dicke Brille. Er strich sie aus, klopfte mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte und begann zu stricheln, bis er die Predigt vergaß und sich ganz und gar darauf konzentrierte, ein kompliziertes Muster aus geraden und geschwungenen Linien, von Kreisen und Quadraten, verbunden durch eine Querschraffierung, auszuarbeiten. Als es an der Haustür klingelte, war es für ihn eine Erleichterung. «Ich mache auf!», rief er aus seinem Studierzimmer.
    Miriam, die aus der Küche kam, entgegnete: «Lass nur. Das ist wahrscheinlich nur der Junge, der das Zeitungsgeld kassieren will.» Doch als sie öffnete, sah sie das freundliche, frische Gesicht von Hugh Lanigan, dem Polizeichef von Barnard’s Crossing, vor sich.
    Der Rabbi, hinter ihr, begrüßte ihn freudig. «Nur herein! Nur herein, Chief! Miriam wollte gerade Kaffee machen. Nicht wahr, Liebes?»
    Pflichtgetreu erwiderte Miriam: «Ja, ich habe das Wasser schon aufgesetzt. Bitte, kommen Sie herein.» Aber sie konnte es sich nicht verkneifen und setzte hinzu: «David arbeitet an einer Predigt, und ich weiß, dass er nach einem Grund zum Aufhören sucht.»
    Lanigan lächelte. «Was ist los, David? Haben Sie Schwierigkeiten damit?»
    «David hat mit all seinen Predigten Schwierigkeiten», behauptete Miriam spitz. Sie war klein und hätte in ihrem Pullover, dem Rock und den Mokassins wie ein Teenager ausgesehen, hätten die Gesichtszüge mit dem spitzen Kinn nicht Reife und Entschlossenheit verraten. Ihr dichtes, blondes Haar, auf dem Kopf aufgetürmt, als wolle sie es lediglich aus dem Weg haben, schien fast zu schwer für die kleine, schlanke Figur.
    «Ach, wirklich? Ich hätte gedacht, so was macht Ihnen Spaß», sagte Lanigan. «Sie können die Leute runterputzen, und die dürfen nicht antworten. Zuhörer, die wahrhaft gefesselt sind.»
    Der Rabbi grinste. «Es liegt mir nicht sehr, die Leute runterzuputzen, vor allem nicht, da ich mir meiner eigenen Unzulänglichkeit nur allzu bewusst bin. Außerdem würde es nichts bringen. Die Predigt ist nichts weiter als eine Art Unterhaltung, die der Rabbi liefert, damit der langweilige Gottesdienst schneller vorbeigeht. Sie gehört im Grunde sogar überhaupt nicht zur Tradition. Früher haben die Rabbis nie gepredigt.»
    «Sie meinen, wenn eine Synagoge einen Rabbi engagierte, erwartete man nicht von ihm, dass er predigte?»
    Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Nicht die Synagoge engagierte den Rabbi, sondern die Stadt oder Gemeinde. Und sie engagierten ihn ausschließlich als Schiedsrichter, der Rechtsfragen löste, die eventuell auftauchten. Ansonsten erwartete man von ihm, dass er sich seinen Studien widmete.»
    «Er wurde bezahlt, damit er studierte?»
    «Warum denn nicht? Die Universitäten subventionieren doch auch Wissenschaftler. Warum also nicht eine Gemeinde?»
    «Nun ja, vermutlich. Und er brauchte überhaupt nicht zu predigen?»
    «Sein Vertrag schrieb ihm zwei Predigten pro Jahr vor, am Sabbat vor dem Passah-Fest und am Sabbat vor dem Versöhnungstag. Aber das waren keine Predigten in Ihrem Sinn. Es waren gelehrte Vorträge wie die Vorlesungen eines Juraprofessors. Er hat die Gemeinde nicht ermahnt. Die Predigten, wie Sie sie gewöhnt sind, die gegen die Sünde, die wurden gewöhnlich von einem Wanderprediger gehalten, einem megid . Heutzutage erwartet man natürlich, dass der Rabbi, genau wie der Pastor und der Pfarrer, jede Woche eine Predigt hält. Manche Rabbis tun das gern. Wahrscheinlich, weil es ihnen besonders liegt. Der ärmste Student meines Jahrgangs im Seminar hat aufgrund dessen jetzt eines
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