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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Autoren: Howard Jacobson
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dich.«
    »Nur weil ich so gefragt bin?«
    »Weil nichts in mir nach dir fragt.«
    »Bitte, verlass mich nicht. Wenn ich bisher kein Fels für dich war, werde ich von nun an einer sein.«
    »Wirst du nicht. Fels liegt dir nicht.«
    »Kümmere ich mich denn nicht um dich, wenn du krank bist?«
    »Tust du, du bist wunderbar, wenn ich krank bin. Nur wenn es mir gut geht, kann ich dich nicht gebrauchen.«
    Er flehte sie an, nicht zu gehen. Setzte alles aufs Spiel, schlang die Arme um sie und weinte sich an ihrem Hals aus.
    »Du bist mir ein Fels«, sagte sie.
    Sie hieß June.
    Gefragt sein ist relativ. Zumindest war er als Doppelgänger nicht so gefragt, dass es nicht viele unbeschäftigte Stunden gegeben hätte, in denen er darüber nachdenken konnte, was ihm widerfahren oder vielmehr nicht widerfahren war, über die Frauen und die Trauer, die er für sie empfand, seine Einsamkeit und diese Leere in ihm, für die ihm das richtige Wort fehlte. Seine Unvollständigkeit, seine Un-Zweisamkeit, sein Anfang,
der auf ein Ende wartete. Oder war es sein Ende, das auf den Anfang, seine Geschichte, die auf ihren Plot wartete?
     
    Der Überfall geschah exakt um halb zwölf Uhr nachts. Das wusste Treslove, weil er aus irgendeinem Grund kurz zuvor auf seine Uhr gesehen hatte. Vielleicht eine Ahnung, dass er nie wieder einen Blick darauf werfen würde. Wegen der hellen Straßenlampen und der Anzahl der beleuchteten Geschäfte – ein Friseur hatte noch geöffnet, ein Dim-Sum-Restaurant und ein Zeitungsladen wurden renoviert – hätte man glauben können, es sei erst Nachmittag. Die Straßen waren auch keineswegs verlassen. Mindestens ein Dutzend Leute hätten Treslove zu Hilfe kommen können, taten es aber nicht. Vielleicht verblüffte sie die Unverschämtheit des Angriffs – kaum hundert Meter von der Regent Street entfernt, fast in Fluchweite der BBC. Vielleicht glaubten sie auch, die beiden Beteiligten spielten nur oder hätten sich auf dem Heimweg vom Restaurant oder Theater in die Haare bekommen. Man hätte sie sogar – das war ja das Seltsame – für ein Paar halten können.
    Und genau das fand Treslove so unerträglich bitter. Nicht die abrupte Unterbrechung seines wohligen Vorsichhinträumens mit ihm in der Rolle des Witwers. Nicht die schockierende Unvermitteltheit des Angriffs, eine Hand, die ihn im Nacken packte und so fest ans Schaufenster von Guiviers Geigengeschäft drückte, dass die Saiten der Instrumente hinter der bebenden Scheibe vibrierten, sofern denn die Musik, die er hörte, nicht das Geräusch seiner brechenden Nase war. Nicht einmal der Diebstahl von Uhr, Brieftasche, Füller und Handy, sosehr er an ersterer hing und so unangenehm der Verlust des zweiten, dritten und vierten Gegenstandes auch sein mochte. Nein, am meisten machte ihm zu schaffen, dass die Person, die ihn überfallen, ja, die ihm schreckliche Angst eingejagt hatte – dass diese Person, gegen die er sich nicht einmal ansatzweise gewehrt hatte … eine Frau war.
    3
    Bis zum Überfall war Tresloves Abend angenehm leidvoll, doch keineswegs deprimierend verlaufen. Auch wenn sie es bedauerlich fanden, im Grunde ohne Zweck und Ziel zu agieren, waren die drei Männer – zwei Witwer und Treslove, als Witwer ehrenhalber der Dritte im Bunde – gern zusammen, stritten über Wirtschaft und Weltgeschehen, erinnerten sich an Witze und Anekdoten aus der Vergangenheit und schafften es fast, sich einzureden, sie wären in eine Zeit zurückversetzt, in der sie noch keine Frauen zu verlieren hatten. Es war ein Traum, ein kurzer Traum, ihre Verliebtheit, die Kinder, die sie in die Welt setzten – Treslove hatte, soweit er wusste, unabsichtlich zwei gezeugt –, und die Abschiede, die sie so tief erschütterten. Niemand, den sie liebten, hatte sie verlassen, da sie noch niemanden liebten. Der Tod lag noch in der Zukunft.
    Wem versuchten sie eigentlich etwas vorzumachen?
    Libor Sevcik, in dessen zwischen Regent’s Park und dem Broadcasting House der BBC liegenden Wohnung sie sich getroffen hatten, setzte sich nach dem Essen ans Klavier und spielte Schuberts Impromptus Opus 90, das seine Frau Malkie so geliebt hatte. Treslove fürchtete, aus Trauer um seinen Freund auf der Stelle sterben zu müssen. Er wusste nicht, wie Libor Malkies Tod verkraftete. Vierzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Libor ging auf die neunzig zu. Was konnte es für ihn noch geben, das das Leben lohnte?
    Vielleicht Malkies Musik. Nie hatte sich Libor ans Klavier gesetzt, als Malkie
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